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Die weiße Garde

Die weiße Garde

Titel: Die weiße Garde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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…«
    Mehr wollte Nai-Turs nicht erklären. Sein Unterkiefer bewegte sich noch dreimal, aber krampfhaft, als ob Nai-Turs am Ersticken wäre, dann blieb er unbeweglich, und der Oberst wurde schwer wie ein großer Mehlsack.
    So stirbt man? dachte Nikolka. Das kann nicht sein. Er hat doch eben noch gelebt. Im Kampf verspürt man also gar keine Furcht. Ich aber bin nicht getroffen.
    Zahnärztin …
    flatterte es zum zweitenmal über seinem Kopf, und wieder zersprangen Scheiben. Vielleicht ist er nur besinnungslos? kam es dem verwirrten Nikolka in den Sinn, und er versuchte, Nai-Turs hochzuziehen. Aber das war unmöglich. Habe ich Angst? dachte er und spürte, daß er wahnsinnige Angst hatte. Weshalb? Weshalb? dachte Nikolka und begriff sogleich, daß er vor Kummer und Einsamkeit Angst hatte, daß er, wäre Oberst Nai-Turs noch auf den Beinen, keine Angst verspüren würde. Aber Oberst Nai-Turs lag vollkommen unbeweglich, erteilte keine Befehle und beachtete weder, daß sich neben seinem Ärmel eine große rote Lache ausbreitete, noch daß von den Wänden wie verrückt der Putz wegspritzte. Nikolka fürchtete sich, weil er gänzlich allein war. Zwar rückten keine Reiter mehr von der Seite an, aber sicherlich war alle Welt gegen Nikolka, und er war der letzte und ganz allein. Die Einsamkeit trieb ihn von der Kreuzung weg. Er robbte, den rechten Arm auf den Ellbogen gestützt, denn in der Hand hielt er den Colt von Nai-Turs. Die richtige Angst kam, als bis zur Ecke nur noch zwei Schritte waren. Jetzt treffen sie mich ins Bein, dann kann ich nicht weg, und die Petljurasoldaten kommen und zerhacken mich mit den Säbeln. Es ist schrecklich, wenn man liegt und niedergesäbelt wird. Ich werde schießen, wenn der Colt geladen ist. Noch eineinhalb Schritte … noch ein Stück, noch ein Stück … schwupp … und Nikolka war in der Fonarny-Gasse.
    Erstaunlich, höchst erstaunlich, daß sie mich nicht getroffen haben. Ein wahres Wunder. Wirklich ein Wunder Gottes, dachte Nikolka und erhob sich. Ein Wunder. Jetzt habe ich selbst eines gesehen – ein Wunder. Der Glöckner von Notre-Dame. Victor Hugo. Was ist jetzt mit Jelena? Und mit Alexej? Es ist klar: Wenn die Schulterklappen abgerissen werden, muß sich eine Katastrophe ereignet haben.
    Nikolka sprang hoch, bis zum Hals mit Schnee verschmiert, schob den Colt in die Manteltasche und rannte die Gasse entlang. Das erste Tor rechts stand offen, Nikolka lief durch den hallenden Torweg, kam auf einen düsteren, schmutzigen Hof mit Schuppen aus rotem Backstein rechts und Holzstapeln links, begriff, daß der Durchgang in der Mitte sein mußte, stürzte hin und stieß auf einen Mann im Schafpelz. Ganz deutlich: roter Bart und kleine Äuglein, aus denen Haß triefte. Ein stupsnäsiger Nero mit Schafmütze. Der Mann, als wolle er lustig spielen, umfaßte Nikolka mit dem linken Arm und drehte ihm mit der rechten Hand den Arm nach hinten. Einige Augenblicke war Nikolka verdutzt. O Gott, er hält mich fest, er haßt mich. Ein Petljura-Anhänger …
    »Du Lump!« schrie der Rotbärtige heiser und keuchend. »Wohin? Halt!« Dann schrie er plötzlich: »Haltet, haltet den Junker! Denkst du, man erkennt dich nicht, wenn du die Schulterklappen abgemacht hast, Lump? Haltet ihn!«
    Rasende Wut packte Nikolka. Er bückte sich jäh, so daß auf dem Mantel hinten der Riegel platzte, drehte sich um und riß sich mit übernatürlicher Kraft los. Für einen Augenblick sah er den Roten nicht, denn er stand mit dem Rücken zu ihm, dann aber fuhr er herum und sah ihn wieder. Der hatte keine Waffe, er war nicht einmal Soldat, sondern Hauswart. Die Wut flatterte wie eine rote Decke vor Nikolkas Augen und wurde dann von einer unerschütterlichen Zuversicht abgelöst. Wind und Kälte drangen in seinen heißen Mund, denn er hatte die Zähne gefletscht wie ein junger Wolf. Er holte die Hand mit dem Colt aus der Tasche und dachte dabei: Ich bring den Mistkerl um, wenn nur der Colt geladen ist. Er erkannte seine Stimme nicht – so fremd und schrecklich klang sie.
    »Ich bring dich um, Scheusal!« zischte er, betastete den komplizierten Colt und begriff sogleich, daß er vergessen hatte, wie man damit schießt. Als der rotbärtige Hauswart Nikolka bewaffnet sah, fiel er entsetzt und verzweifelt auf die Knie, jammerte und verwandelte sich auf wunderbare Weise aus einem Nero in eine Schlange.
    »Ach, Euer Wohlgeboren! Euer …«
    Nikolka hätte geschossen, aber der Colt wollte nicht. Nicht geladen, so ein Pech!

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