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Die weiße Garde

Die weiße Garde

Titel: Die weiße Garde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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seufzend. »Der Vogel ist der beste Freund des Menschen. Viele halten ihn zwar für überflüssig in der Wohnung, doch ich behaupte: Ein Vogel tut niemandem Böses.«
    Der letzte Satz gefiel Nikolka. Er bemühte sich nicht mehr, etwas zu begreifen, kratzte sich verlegen mit dem Brief die Augenbraue, schob die Beine vom Bett und dachte dabei: Es ist peinlich, ihn nach seinem Namen zu fragen. Eine merkwürdige Geschichte.
    »Ist das ein Kanarienvogel?« fragte er.
    »Ja, aber was für einer!« antwortete der Unbekannte begeistert. »Ein ganz echter. Ein Männchen. Und davon habe ich in Shitomir fünfzehn Stück. Ich habe sie zu Mama gebracht, sie soll sie füttern. Dieser Schurke hätte ihnen bestimmt den Hals umgedreht. Er haßt Vögel. Darf ich ihn vorläufig hier auf den Schreibtisch stellen?«
    »Bitte«, antwortete Nikolka. »Sie sind aus Shitomir?«
    »Ja doch«, sagte der Unbekannte, »und stellen Sie sich so einen Zufall vor: Ich bin zusammen mit Ihrem Bruder angekommen.«
    »Mit welchem Bruder?«
    »Was für eine Frage? Ihr Bruder ist zusammen mit mir hier angekommen«, antwortete der Unbekannte erstaunt.
    »Was für ein Bruder?« rief Nikolka mit kläglicher Stimme. »Was für ein Bruder? Aus Shitomir?«
    »Ihr älterer Bruder.«
    Jelenas Stimme rief ganz deutlich aus dem Wohnzimmer: »Nikolka! Nikolka! Illarion Larionowitsch, wecken Sie ihn doch! Wecken Sie ihn!«
    »Triki, fit, fit, triki!« kreischte der Vogel langgedehnt.
    Nikolka ließ den blauen Brief fallen, flog wie eine Kugel durch das Bücherzimmer ins Eßzimmer und blieb dort mit ausgebreiteten Armen wie angewurzelt stehen.
    Alexej Turbin – in fremdem schwarzem Mantel mit zerrissenem Futter und fremden schwarzen Hosen – lag unbeweglich auf dem Sofa unter der Uhr. Sein Gesicht war bläulichblaß, die Zähne zusammengebissen. Jelena hastete um ihn herum, ihr Morgenrock stand offen, die schwarzen Strümpfe und die Spitzen ihrer Unterwäsche waren zu sehen. Sie faßte bald seine Knöpfe, bald seine Hände an und rief »Nikolka! Nikolka!«.
    Drei Minuten später lief Nikolka mit der Studentenmütze auf dem Hinterkopf und mit offenem grauem Mantel keuchend den Alexejewski-Hang hinauf und murmelte: »Und wenn er nicht zu Hause ist? O Gott, ist das eine Geschichte mit den gelben Stulpen! Kurizki dürfen wir aber auf keinen Fall holen, das ist klar … Katze und Walfisch …« In seinem Kopf klopfte laut der Vogel – triki, fit, fit, triki!
    Eine Stunde danach stand auf dem Fußboden im Eßzimmer eine Schüssel voll rotem Wasser, daneben lagen Klumpen zerrissenen, blutigen Mulls und weiße Scherben von dem Tellerstapel, den der Unbekannte vom Büfett gestoßen hatte, als er ein Glas holen wollte. Die Scherben knirschten, wenn einer darüber lief. Turbin – blaß, aber nicht mehr bläulich – lag noch immer auf dem Rücken. Er kam zu sich und wollte etwas sagen, aber der spitzbärtige Arzt mit den hochgekrempelten Ärmeln und dem goldenen Kneifer beugte sich zu ihm und sagte, während er die blutigen Hände mit Mull abwischte:
    »Sprechen Sie noch nicht, Kollege.«
    Anjuta, kreidebleich, mit riesigen Augen, und Jelena, zerzaust, rothaarig, hoben Turbin an und zogen ihm das mit Blut und Wasser bespritzte Hemd mit dem aufgeschnittenen Ärmel aus. »Schneiden Sie weiter auf, jetzt kommt es nicht mehr darauf an«, sagte der Spitzbärtige.
    Das Hemd wurde Turbin auf dem Leib zerschnitten und fetzenweise abgenommen. Der magere gelbe Körper mit dem bis zur Schulter fest verbundenen linken Arm war entblößt. Oben und unten sahen die Enden von Schienen heraus. Nikolka kniete vor Turbin, knöpfte ihm vorsichtig die Hose auf und zog sie aus.
    »Ziehn Sie ihn ganz aus und legen Sie ihn sofort ins Bett«, sagte der Spitzbärtige mit Baßstimme. Anjuta goß ihm aus der Kanne Wasser auf die Hände, Seifenschaum fiel in die Schüssel. Der Unbekannte stand abseits, beteiligte sich nicht an Hast und Durcheinander, sah bald bedauernd auf die zerschlagenen Teller, bald verlegen auf die zerzauste Jelena – ihr Morgenrock stand offen. Seine Augen waren feucht von Tränen.
    Turbin wurde von allen aus dem Eßzimmer in sein Zimmer getragen, auch der Unbekannte beteiligte sich, legte den Arm um Turbins Knie und trug die Beine.
    Im Wohnzimmer reichte Jelena dem Arzt Geld. Er wehrte ab. »Lassen Sie das, er ist doch Arzt. Etwas anderes ist viel wichtiger. Eigentlich müßte er ins Krankenhaus.«
    »Das ist unmöglich«, ließ sich die schwache Stimme Turbins vernehmen. »Ins

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