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Die weiße Garde

Die weiße Garde

Titel: Die weiße Garde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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auf dem Rücken, das Gesicht war rot, in der Kehle pfiff es … ein Pfiff! Schnee und ein Spinngewebe. Ringsum Spinngewebe, der Teufel soll es holen! Er muß aus diesem Spinngewebe heraus, aber es wächst und wächst, das verfluchte, reicht schon bald bis zum Gesicht. Womöglich wickelt es ihn so ein, daß er nicht mehr herausfindet und erstickt! Hinter dem Netz des Spinngewebes sauberer Schnee, soviel man möchte, ganze Schneefelder. Dorthin muß man gelangen und möglichst schnell, denn eine Stimme ruft: »Nikolka!« Und da, stellen ie sich vor, verfängt sich ein munterer Vogel in dem Spinngewebe und zwitschert los: »Ti-ki-tiki, tiki, tiki. Fiu. Fiu! Tiki! Tiki!« Teufel noch mal! Er ist nicht zu sehen, aber er zwitschert irgendwo in der Nähe, jemand beklagt sich über sein Schicksal, und wieder die Stimme: »Nik! Nik! Nikolka!«
    »Ach!« krächzte Nikolka, zerriß das Spinngewebe, fuhr hoch und blieb so sitzen – zerzaust, zerschunden, das Koppelschloß verrutscht. Sein helles Haar stand zu Berge, als ob ihn jemand lange daran gezaust hätte.
    »Wer? Wer? Wer?« fragte Nikolka entsetzt, ohne etwas zu begreifen.
    »Wer. Wer, wer, wer, so, so? Fi-ti! Fiu! Fiu!« antwortete das Spinngewebe, und eine traurige Stimme sagte, voll innerer Tränen:
    »Ja, mit ihrem Liebhaber!«
    Nikolka drückte sich entsetzt an die Wand und starrte auf das Trugbild. Das Trugbild hatte eine braune Jacke, eine braune Reithose und Stiefel mit gelben Jockeistulpen an. Die Augen waren trüb und traurig und blickten aus den tiefen Höhlen eines übermäßig großen, kurzgeschorenen Kopfes. Zweifellos war es jung, das Trugbild, aber seine Gesichtshaut war alt und grau, die Zähne schief und gelb. In den Händen hielt es einen mit schwarzem Tuch bedeckten Käfig und einen geöffneten blauen Brief.
    Ich bin noch nicht wach, begriff Nikolka, machte eine Handbewegung, um das Trugbild wie ein Spinngewebe zu zerreißen, und stieß mit den Fingern schmerzhaft gegen die Gitterstäbe. Der Vogel in dem schwarzen Käfig schrie, pfiff und schmetterte los.
    »Nikolka!« kam von weit her Jelenas erregte Stimme.
    Herr Jesus, dachte Nikolka, ich bin wach, habe aber den Verstand verloren, und ich weiß auch weshalb – vor Übermüdung durch den Krieg. O mein Gott! Solchen Unsinn sehe ich … Aber die Finger? O Gott, Alexej ist nicht zurück, ach ja, er ist nicht zurück, er ist gefallen, o weh, o weh!
    »Mit ihrem Liebhaber auf demselben Sofa«, sagte das Trugbild mit tragischer Stimme, »auf dem ich ihr Gedichte vorgelesen habe.«
    Das Trugbild richtete seine Worte zur Tür, sicherlich an einen Zuhörer, dann aber wandte es sich endgültig an Nikolka:
    »Tja, auf demselben Sofa. Da sitzen sie jetzt und küssen sich … nach den Wechseln über fünfundsiebzigtausend, die ich als Gentleman, ohne zu zaudern, unterschrieben habe. Denn ich war Gentleman und bleibe es. Sollen sie sich küssen!«
    O weh, o weh, dachte Nikolka. Es rieselte ihm kalt über den Rücken, er riß die Augen auf.
    »Verzeihen Sie«, sagte das Trugbild, trat immer deutlicher aus dem trüben Traumnebel und verwandelte sich in einen wirklichen, lebenden Menschen. »Ihnen ist wohl nicht alles klar? Nehmen Sie bitte den Brief – er erklärt Ihnen alles. Als Gentleman verheimliche ich meine Schande niemandem.«
    Mit diesen Worten reichte der Unbekannte Nikolka den blauen Brief. Sprachlos nahm Nikolka ihn und las, die Lippen bewegend, die große, schwungvolle, aufgeregte Schrift. Ohne Datum stand auf dem bläulichen Blatt:

    »Liebe, liebe Lena! Ich kenne Ihr gutes Herz und schicke Lariossik gleich zu Ihnen, wie es unter Verwandten üblich ist. Ein Telegramm habe ich Ihnen übrigens auch gesandt, aber er wird Ihnen alles selbst erzählen, der arme Junge. Er hat einen schrecklichen Schicksalsschlag erlitten, und ich habe lange befürchtet, daß er ihn nicht überstehen würde. Milotschka Rubzowa, die er, wie Sie wissen, vor einem Jahr heiratete, hat sich als heimtückische Schlange entpuppt! Ich flehe Sie an: Nehmen Sie ihn auf und trösten Sie ihn so, wie nur Sie es verstehen. Ich werde seinen Unterhalt regelmäßig überweisen. Shitomir ist ihm verhaßt geworden, und ich verstehe das vollkommen. Mehr möchte ich nicht schreiben, ich bin zu aufgeregt, und außerdem fährt gleich ein Sanitätszug ab, Lariossik wird Ihnen selbst alles erzählen. Ich grüße Sie und Serjosha von ganzem Herzen.«

    Eine unleserliche Unterschrift.
    »Den Vogel habe ich mitgebracht«, sagte der Unbekannte

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