Die weiße Garde
Gegen neun Uhr abends schnaufte er und sagte laut:
»Ich verliere den Verstand. Eigentlich müßte ich mich erschießen.« Und wie als Antwort klingelte das Telefon.
»Ist dort die sechste Batterie?« fragte eine ferne Stimme.
»Ja, ja«, antwortete der Stabskapitän, außer sich vor Freude.
Die erregte Stimme klang aus der Entfernung fröhlich und dumpf:
»Eröffnen Sie unverzüglich das Feuer auf den Stadtrand
…« Die ferne, undeutliche Stimme quakte durch den Draht. »Trommelfeuer …« Die Stimme wurde abgeschnitten. »Ich habe den Eindruck …« Die Stimme wurde wieder abgeschnitten.
»Ja, ich höre, ich höre«, rief der Stabskapitän in die Muschel und bleckte verzweifelt die Zähne. Eine lange Pause trat ein.
»Ich kann kein Feuer eröffnen«, sagte der Stabskapitän in die Muschel, obwohl ihm klar war, daß er ins Leere sprach, aber er mußte sprechen. »Meine ganze Bedienungsmannschaft und drei Fähnriche sind geflohen. An der Batterie bin ich ganz allein. Melden Sie das bitte in Post-Wolynski.«
Noch eine Stunde blieb der Stabskapitän sitzen, dann ging er hinaus. Draußen tobte heftiges Schneegestöber. Die vier düsteren und furchterregenden Kanonen waren schon zugeweht, auf den Läufen und Verschlüssen hatten sich Schneekämme gebildet. Es stöberte und wirbelte, und der Stabskapitän tastete sich in dem kalten Gewinsel des Schneesturmes umher wie ein Blinder. Lange hantierte er, ohne etwas zu sehen, bis es ihm in der schneereichen Finsternis gelang, den ersten Verschluß abzunehmen. Er wollte ihn in den Brunnen werfen, überlegte es sich aber und kehrte ins Wärterhäuschen zurück. Noch dreimal ging er hinaus, nahm von allen Kanonen den Verschluß ab und versteckte sie im Keller unter den Kartoffeln. Dann löschte er die Lampe und ging in die Finsternis hinaus. Zwei Stunden wohl stampfte er durch den tiefen Schnee, eine dunkle, unsichtbare Gestalt, und erreichte die Chaussee, die in die STADT führte. Die wenigen Laternen auf der Chaussee brannten trüb. Unter der ersten dieser Laternen säbelten ihn Berittene mit langgeschwänzten Mützen nieder und eigneten sich seine Stiefel und die Uhr an.
Die gleiche Telefonstimme ertönte in einer Erdhütte sechs Werst westlich vom Wärterhäuschen.
»Eröffnen Sie unverzüglich das Feuer auf den Stadtrand. Ich habe den Eindruck, daß der Feind zwischen uns in die STADT eingedrungen ist.«
»Hören Sie? Hören Sie?« antwortete es aus der Erdhütte.
»Erkundigen Sie sich in Post …« Die Verbindung war unterbrochen.
Die Stimme im Hörer quakte, ohne auf den Sprecher zu reagieren:
»Laufendes Feuer auf die Stadtgrenze … auf die Kavallerie …«
Die Verbindung brach ganz ab.
Aus der Erdhütte krochen drei Offiziere mit Laternen und drei Junker in Schafpelzen. Der vierte Offizier und zwei Junker standen bei den Kanonen, auch mit einer Laterne, die der Schneesturm dauernd auszublasen trachtete. Fünf Minuten später feuerten die Kanonen zurückprallend in die Dunkelheit. Sie erfüllten die ganze Gegend – fünfzehn Werst im Umkreis – mit mächtigem Gedröhn, das auch im Haus Nummer dreizehn am Alexejewski-Hang gehört wurde. »O Gott, gib …«
Eine berittene Hundertschaft, die sich im Schneegestöber herumtrieb, stieß aus der Dunkelheit von hinten auf die Laternen und säbelte die Junker und die vier Offiziere nieder. Der Kommandeur, der in der Erdhütte am Telefon saß, schoß sich in den Mund.
Seine letzten Worte waren:
»Stabsgesindel! Ich kann die Bolschewiken gut verstehen.«
Nachts knipste Nikolka in seinem Eckzimmer die obere Lampe an und schnitt mit seinem Taschenmesser ein großes Kreuz und eine ungefüge Inschrift in den Türrahmen:
»o. Turs gef. am 14. Dez. 1918 um 4 Uhr nachmit.«
»Nai« hatte er ausgelassen für den Fall, daß Petljura-Leute eine Haussuchung vornähmen.
Er wollte wach bleiben, um die Klingel zu hören, klopfte bei Jelena an die Wand und sagte:
»Schlaf Du, ich bleibe auf.«
Angezogen warf er sich aufs Bett und fiel in tiefen Schlaf. Jelena schlief bis zum Morgen nicht, sie lauschte und lauschte, ob es nicht klingelte. Aber es klingelte nicht, der ältere Bruder, Alexej, blieb verschwunden.
Ein müder, zerschlagener Mensch muß schlafen, es ist schon elf, und er schläft und schläft … Sein Schlaf war ungewöhnlich, muß ich Ihnen sagen! Die Stiefel waren lästig, das Koppel drückte gegen die Rippen, der Kragen würgte, und ein Alpgespenst saß mit seinen Pfötchen auf der Brust.
Nikolka lag
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