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Die weiße Garde

Die weiße Garde

Titel: Die weiße Garde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Bulgakow
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erfüllt. Nikolka verfiel bei ihren Ausrufen in Trauer und Verzweiflung.
    »Vielleicht lebt er doch noch?« fragte er schüchtern. »Sieh mal, er ist immerhin Arzt. Wenn er auch gefaßt wurde, vielleicht erschießen sie ihn nicht, sondern nehmen ihn nur gefangen.«
    »Sie werden Katzen essen, sie werden einander töten wie wir«, sprach Jelena laut und drohte haßerfüllt dem Feuer mit dem Finger.
    Ach, ach … Bolbotum kann kein Großfürst sein. Das Heer kann keine achthunderttausend Mann haben und auch keine Million. Im übrigen ist alles unklar. Das ist sie also, die schreckliche Zeit. Talberg hat wohl doch schlau gehandelt, er ist zur rechten Zeit verschwunden. Auf dem Fußboden tanzen die Feuerflecke. Es gab doch friedliche Zeiten und herrliche Länder. Paris, zum Beispiel, und Ludwig mit den Bildchen auf dem Hut, und Clopin Trouillefou wärmte sich vor genauso einem Feuer. Sogar er, der Bettler, hat es gut gehabt. Aber nirgends und niemals gab es so einen gemeinen Lumpen wie diesen rothaarigen Hauswart Nero. Alle hassen uns, aber er ist ein richtiger Schakal. Einen von hinten am Arm zu packen …

    Da begannen draußen Kanonen zu donnern. Nikolka sprang hoch und lief unruhig hin und her.
    »Hörst du? Hörst du? Vielleicht sind das die Deutschen. Vielleicht sind die Verbündeten zu Hilfe gekommen? Wer schießt dort? Sie können doch nicht die STADT beschießen, wenn sie sie schon eingenommen haben.«
    Jelena faltete die Hände auf der Brust und sagte: »Nikolka, ich lasse dich nicht weg. Ich lasse dich nicht. Ich flehe dich an, bleib hier. Sei vernünftig.«
    »Ich würde nur bis zum Platz an der Andrej-Kirche gehen und von dort aus beobachten und horchen. Von dort ist ja ganz Podol zu sehen.«
    »Nun gut, geh, wenn du imstande bist, mich in solchem Augenblick allein zu lassen. Geh.«
    Nikolka wurde unschlüssig.
    »Dann gehe ich nur auf den Hof und horche.«
    »Ich komme mit.«
    »Lena, und wenn Alexej zurückkehrt, hören wir die Klingel vom Haupteingang nicht.«
    »Ja, wir werden sie nicht hören, und du bist schuld.«
    »Ich gebe dir mein Ehrenwort, Lena, daß ich mich keinen Schritt vom Hof rühre.«
    »Ehrenwort?«
    »Ehrenwort.« »Du gehst nicht durch die Pforte? Steigst nicht auf den Berg? Bleibst du nur im Hof stehen?«
    »Ehrenwort.«
    »Dann geh.«
    Am vierzehnten Dezember 1918 fiel dichter Schnee und deckte die STADT zu. Und diese merkwürdigen, unerwarteten Kanonen schossen um neun Uhr abends. Sie schossen nur eine Viertelstunde lang.
    Schneeflocken tauten hinter Nikolkas Kragen, und er kämpfte mit sich, ob er nicht doch die verschneite Anhöhe erklimmen sollte. Von dort aus könnte er nicht nur Podol übersehen, sondern auch einen Teil der oberen STADT, das Seminar, Hunderte Lichter in den hohen Häusern, die Hügel und die Häuschen darauf, in denen die Fenster wie Ewige Lampen blinkten. Aber ein Ehrenwort darf niemand brechen, sonst kann man auf der Welt nicht leben. So dachte Nikolka. Bei jedem drohenden, entfernten Schuß betete er: »O Gott, gib …«
    Aber die Kanonen verstummten.
    Das waren unsere Kanonen, dachte Nikolka verbittert. Von der Pforte zurückkehrend, guckte er bei den Stscheglows ins Fenster. An einem Fenster des Seitenflügels war nämlich der weiße Vorhang etwas zurückgeschoben, und Nikolka sah Marja Petrowna ihren Petka baden. Petka saß nackt in der Waschbütte und weinte lautlos, denn er hatte Seife in die Augen bekommen. Marja Petrowna drückte den Schwamm über ihm aus. An einer Leine hing Wäsche, und über der Wäsche bewegte und bückte sich der große Schatten Marja Petrownas. Nikolka dachte, daß die Stscheglows es warm und gemütlich hätten, während er im aufgeknöpften Mantel fror.

    Im tiefen Schnee, acht Werst nördlich der Vorstadt, saß in einem Wärterhäuschen, das vom Wärter verlassen und vom weißen Schnee zugeweht war, ein Stabskapitän. Auf dem Tischchen lag ein Brotkanten, daneben standen der Kasten eines Feldtelefons und ein Petroleumlämpchen mit verrußtem bauchigem Zylinder. Im Ofen war das Feuer am Erlöschen. Der Stabskapitän war klein, hatte eine lange, spitze Nase und trug einen Mantel mit breitem Kragen. Mit der linken Hand bröckelte er vom Brotkanten Stücke ab, mit der rechten drückte er die Knöpfe des Telefons. Aber das Telefon war wie tot, es antwortete nicht.
    Fünf Werst im Umkreis gab es nichts als Dunkelheit und dichten Schneefall. Berge von Schnee.
    Noch eine Stunde verging, der Stabskapitän ließ das Telefon in Ruhe.

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