Die weiße Hexe
gefragt. Für sie war völlig klar, daß es gemacht wird.“
„Würdest du denn selber auch bei Mädchen eine Beschneidung vornehmen?“ Ich ließ nicht locker.
Yemi nickte ganz selbstverständlich. „Im Busch schon. Wenn es zur Tradition der Eltern gehört. Bei mir könnten die Patientinnen wenigstens sicher sein, daß alles hygienisch zugeht. Aber hier in Lagos“, schränkte sie ein, „hat sich diese Tradition weitgehend überlebt.“
„Tradition ist also wichtiger als Selbstbestimmung?“
Yemi antwortete weise: „Ich habe in deinem Land gelernt, daß ihr nur den eigenen Weg für richtig haltet. Dinge, die man selbst nicht machen würde, dürfen andere Völker deshalb auch nicht tun.“
„Also: ja?“
„Ich bin für die Selbstbestimmung einer Kultur, Ilona. Traditionen muß man pflegen. Auch wenn Außenstehende das nicht verstehen.
Mal eine Frage an dich: Findest du es richtig, daß Missionare durch die Welt ziehen und anderen Völkern ihren Glauben aufzwingen?“
Ich glaube heute, aus Yemis Worten sprach eine Art Pragmatismus.
Sie wollte nicht verändern, sondern sich den Verhältnissen anpassen. Darum auch ihre Berufe, Krankenschwester und Hebamme. Helfen, um mit dem Leben zurechtzukommen. Nicht, um es zu ändern. Und so war es auch selbstverständlich, daß Selia bald nach ihrer Genesung heiraten und unter Höllenqualen ihre Kinder bekommen würde. Und wenn sie daran starb, so war das Gottes Wille. Yemi würde diesen Willen durch ihre Hilfe nur für kurze Zeit aufhalten können.
Yemi half anderen so viel, daß sie ihren eigenen Körper und ihre sensible Psyche zu wenig beachtete. Sie litt unter schwerem Asthma. Nachdem ich Yemi und Abiola drei Monate kannte, kam ich an einem Freitag zum Abendessen. Yemi hatte wieder einen ihrer sehr heftigen Asthmaanfälle gehabt und litt seitdem auch unter blutigem Ausfluß.
„Ich glaube, ich sollte zum Arzt. Ich bin nämlich wieder schwanger.“
Sie lächelte tapfer. Bei uns wird in solchen Fällen ein Krankenwagen gerufen. Doch in Lagos war alles viel komplizierter.
Abiola verfügte nicht über das Luxusgut Telefon. Wir mußten Femi bitten, der im Wagen auf mich wartete, zu Abiolas Vetter in einen weit entfernten Stadtteil zu fahren. Der Vetter besaß eine Privatklinik, in die wir Yemi bringen wollten. Nachdem Femi den Vetter verständigt und zu Abiola zurückgekehrt war, konnten wir Yemi erst mitten in der Nacht in die Klinik transportieren.
Es war ein sehr gepflegt wirkendes Krankenhaus, nach europäischem Standard. Der Vetter erwartete Yemi, untersuchte sie und brachte sie in einem Einzelzimmer unter. Ich versprach ihr, gemeinsam mit Abiola am nächsten Morgen zu Besuch zu kommen.
„Es ist sicher nichts Schlimmes. Mach dir keine Sorgen. Ich werde erst mal schlafen“, sagte Yemi zu Abiola. Aber Abiola machte sich Sorgen, große Sorgen.
„Lieb, daß du uns geholfen hast, Ilona. Ich hätte kein Auto fahren können“, sagte er zitternd.
Am nächsten Morgen stand ich mit Femi um halb acht vor Abiolas Haus. Die Kinder bettelten. Sie wollten zu ihrer Mutter. Ich schlug vor, sie mitzunehmen, damit sie sahen, daß mit Yemi alles in Ordnung war. Es war nicht mal acht, als wir die Privatklinik erreichten. Die Tür zu Yemis Zimmer war noch geschlossen. „Leise, Kinder, Mama schläft noch“, sagte Abiola und öffnete die Tür, in der Hand eine Thermoskanne mit dem von Yemi so geliebten Ostfriesentee. Die Kinder drängten nach: „Mama!“
Abiola prallte zurück, als liefe er gegen eine Wand. Die drei Mädchen erstarrten. Erst jetzt sah ich ins Zimmer. Blut. Überall Blut.
Yemi mußte in der Nacht versucht haben aufzustehen, Hilfe zu holen. Sie hatte nicht mehr die Kraft gehabt, die Tür zu erreichen, war auf den Boden gestürzt und verblutet. Abiola ließ die Thermoskanne fallen, drehte sich um, schrie, rannte auf den Gang.
Die Sechsjährige weinte verzweifelt: „Mama!“ Die beiden Kleinen, drei und ein Jahr alt, verstanden nichts. Und dann war alles voller Ärzte, Pfleger und Schwestern. Lieber Gott, wo waren die vorher nur gewesen?
Ich bat in der Firma um Urlaub und nahm die drei Mädchen zu mir in das große Haus. Endlich hatten meine vielen Angestellten zu tun.
Die beiden Katzen, durch die ich diese Familie kennengelernt hatte, bekamen eine Aufgabe - die gebrochenen Herzen von drei kleinen Mädchen zu trösten. Ich behielt sie bis zu Yemis Begräbnis bei mir.
Ein verwahrloster Friedhof, auf dem ausgeblichene Plastikblumen zwischen
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