Die weiße Hexe
die schwangere Efe das Grab für Moses schaufelte. Die Szene war so, wie ich sie erlebt hatte. In meinem Traum allerdings lachte Efe, und Moses stand bis zu den Schultern im Grab und winkte mir freundlich zu. Ich lief zu Moses, um ihm aus dem Grab zu helfen. Er griff nach meiner Hand und zog mich hinab. Zu spät erkannte ich, daß es nicht Moses war, der da auf mich gewartet hatte, sondern John. Als ich im Grab lag, schaufelte John es zu. Dann setzte er sich auf die festgestampfte Erde.
„Sie war eine Hexe“, sagte er und aß aus einer Schüssel mit den Fingern garri-Brei, den er mir durch die Erde hindurch in den Mund stopfte, als sollte ich daran ersticken.
Als ich aufwachte, leckte Frosty mit ihrer rauhen Zunge den Schweiß von meiner nassen Nasenspitze. Mein unpersönliches, kaltes Haus begann mir angst zu machen. Jeden Abend fürchtete ich mich davor, schlafen zu gehen.
Ohne Umschweife sagte Mila bei meinem nächsten Besuch: „Erzähl mir, was du letzte Nacht geträumt hast.“
Als ich meinen Traum berichtet hatte, gab Mila wieder diesen unschönen Schnalzlaut von sich, mit dem Nigerianer ihr Mißfallen zum Ausdruck bringen. „Jemand ruft dich“, sagte sie schließlich,
„die Eule ist ein Zeichen. Du kannst es aber nicht verstehen. Ich erkläre es dir.“
Daß Efe angeblich eine Hexe war, hatte ich ja schon von John zu hören bekommen - und es mit einer gehörigen Portion weißer Skepsis ins Reich afrikanischer Mythen und Märchen verwiesen.
Doch Mila sagte nichts anderes als das! „Wenn sie dich ruft, mußt du zu ihr. Sonst widerfährt dir Schlimmes.“
In ihren Kauri-Muscheln sah sie meinen baldigen Tod. Ich erschrak.
Mila blickte mich nachsichtig an. „Das bedeutet doch nicht, daß du tatsächlich stirbst. Das Orakel sagt dir nur deinen Weg voraus.
Wenn du diesen Weg kennst, dann kannst du ihn ändern. Das ist der Sinn des Orakels.“
Mila rief eine ihrer sisters, Rose, ein dünnes, vielleicht zehnjähriges Mädchen. Rose sollte mich in ein Dorf in der Nähe der Ortschaft Irun begleiten. Dort wohnten weise Frauen. Und dann gab sie mir ein paar Verhaltensregeln mit: Ich solle niemandem sagen, wie ich heiße, sondern mir einen anderen Namen zulegen. Meine Haare müsse ich zu Zöpfchen flechten, dürfe sie niemals kämmen. Meine Nägel solle ich auf keinen Fall schneiden, sondern müsse sie abbeißen und verschlucken, meine Exkremente vergraben. Fotos von mir oder meiner Familie dürfe ich nicht mitnehmen, und vor allem sei es absolut verboten zu fotografieren.
Dann machte sie an der Außenseite meines rechten Mittelfingers einen kleinen Einschnitt, in den sie ein schwarzes Pulver rieb. Die zwei Zentimeter lange Narbe habe ich heute noch. „Und jetzt lern zu grüßen“, sagte Mila. Bitte nicht mit rechts, sondern mit links. Zeige-, Mittel- und Ringfinger auf den Puls der anderen Frau legen, kleiner Finger und Daumen greifen zur Handwurzel.
Ich musterte die „Beraterin“ und fragte amüsiert: „Mila, schickst du mich etwa in ein Dorf von Hexen?“
Sie schnalzte nur und hielt mir ihre geöffnete Handfläche hin.
„Willst du mich und meine sisters nicht mit ein bißchen Geld unterstützen?“
Ich lieh mir Bernds Jeep plus Benzinkanister, ließ mir von meinem Stewart eine Kühlbox mit Lebensmitteln packen, bat eine sister, mir die Haare zu flechten, packte einen Berg Utensilien - von dicken Ballen weißen Stoffs und Sandalen bis zu diversen Getränken - in den Jeep und fuhr mit der kleinen Rose einen ganzen Tag lang bis in die Nähe von Irun, 400 Kilometer nordöstlich von Lagos. Die ersten 300 Kilometer führten über autobahnähnliche Straßen, die wegen ihres schlechten Zustands oft nur einspurig waren. Der Rest der Strecke war holprig, es galt Brücken zu überwinden, über die nur lose Holzbohlen gelegt waren.
In einem Dorf mußten wir den Jeep stehenlassen, Rose organisierte einige Mädchen, die uns tragen halfen. Und dann stand ein Fußmarsch an. Zurück brauchte ich für diesen Weg etwas mehr als eine Stunde. Doch hin schleppte ich mich vier Stunden lang. Mein Bein schmerzte derart, daß ich kaum noch laufen konnte. Als ich mich an einen kleinen See setzte, um das angeschwollene Bein zu kühlen, schrie Rose mich an, das nicht zu tun. Ich erfuhr erst später, warum: Die Erreger der Bilharziose, einer Wurmkrankheit, werden durch stehendes, warmes Wasser übertragen.
Wir kamen erst am Abend im Dorf der weisen Frauen an. Rose stellte mich unter dem Namen Maja vor, überreichte die
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