Die weiße Mafia: Wie Ärzte und die Pharmaindustrie unsere Gesundheit aufs Spiel setzen (German Edition)
viele düstere Details zu berichten. Wirkungsvolle Neuentwicklungen wie der Wirkstoff Imatinib (Markenname Glivec), der 2001 für eine besondere Form der Leukämie zugelassen wurde, oder Trastuzumab (Markenname Herceptin), das seit 2006 einem Teil der Brustkrebspatientinnen Überlebensvorteile bringt, gehören leider zu den wenigen positiven Nachrichten von der Chemofront.
Diese bedauerliche Bestandsaufnahme versuchen die Hersteller der Chemotherapeutika mit einem Strategiewechsel zu kaschieren. Die neueste Marketingidee ist die »personalisierte Therapie«. Mit speziellen Biomarkern aus dem Tumorgewebe wollen die Hersteller vor der Therapie die Chancen ermitteln, ob der Tumor auf dieses oder jenes Mittel anspricht. Das hört sich gut an. Viele der Therapeutika schlagen nämlich nicht mal bei zehn Prozent der Behandelten an. 90 Prozent der Patienten haben nur die Nebenwirkungen. Das bedeutet auch: Zehnmal wird so eine 70 000-Euro-Kur durchgeführt, um einmal zu funktionieren. Mit den Biomarkern soll das Verhältnis besser werden. Aber der Berliner Onkologe Prof. Wolf-Dieter Ludwig erklärt mir anlässlich eines Drehs auf seiner Krebsstation, warum diese Strategie bei so vielen Tumorarten kaum Aussicht auf Erfolg hat: »Tumorgewebe ist sehr heterogen. In einem Teil kann es sein, dass der Tumor, der den Biomarker aufweist, tatsächlich auf die entsprechende Chemotherapie reagiert. Aber fünf Millimeter weiter ist der Tumor schon wieder ein ganz anderer. Und die ganze teure Aktion mit dem Biomarker hat dem Patienten gar nichts gebracht.«
Ein weiterer sehr bitterer Punkt – der letzte, den ich hier ansprechen möchte – ist der sogenannte Off-Label-Use von Chemotherapeutika. Die »Behandlung jenseits der Aufschrift«. In den onkologischen Stationen werden etwa 50 Prozent der chemotherapeutischen Behandlungen mit Mitteln im Off-Label-Use durchgeführt. Also bei Tumoren, für die diese Chemotherapeutika eigentlich (noch) gar nicht zugelassen sind. Aufgrund der »besonderen Dringlichkeit« der Situation ist es den Onkologen in Krankenhäusern erlaubt, die ca. 90 auf dem Markt befindlichen Chemotherapeutika in fast allen erdenklichen »Regimen« (Behandlungsplänen) miteinander zu kombinieren. Bis zu drei der zum Teil immens teuren Präparate werden miteinander kombiniert und nach verschiedenen Zeitplänen variiert. Ein Stochern im giftigen Nebel. Doch der eigentliche Skandal daran ist, dass dieser massenhaft durchgeführte wilde Chemotest nicht zentral in einem Register erfasst und ausgewertet wird. So ist es klar, dass in der onkologischen Station der Uniklinik Kiel ein bestimmtes Regime für einen speziellen Tumor durchexerziert wird, obwohl es sich längst in vergleichbaren Therapien in Mainz oder in Bamberg als nutzlos erwiesen hat. Dieses Register könnte zwar kontrollierte klinische Studien nicht ersetzen. Eine bessere Orientierung über die Wirksamkeit der zur Verfügung stehenden Waffen im Kampf gegen den Krebs böte es aber allemal.
Der Onkologie die Narrenfreiheit nehmen
Wir benötigen unbedingt eine breite öffentliche Diskussion über die neuen »zielgerichteten« Wirkstoffe in der Chemotherapie zur Behandlung von Krebs. Der Onkologe und Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Prof. Wolf-Dieter Ludwig, sagt, die Entwicklung habe zu einer Kostenexplosion geführt, die unser Gesundheitssystem in Zukunft extrem belasten wird, ohne dass für die Patienten ein relevanter medizinischer Fortschritt erzielt werden kann. Es besteht dringender Handlungsbedarf.
In meiner Kindheit wurde kaum über Krebs gesprochen. Die unheimliche Krankheit wurde aus dem öffentlichen Diskurs ausgeblendet. Ich habe das Gefühl, unsere Gesellschaft hat ein schlechtes Gewissen wegen der einstigen Diskriminierung dieser Krankheit. Dieses schlechte Gewissen versucht sie zu kompensieren, indem sie die Krebsmedizin auf ein scheinbar grenzenloses Spielfeld eingeladen hat: Alles darf ausprobiert werden. Alles wird bezahlt. Keiner meckert wegen hoher Kosten. Das hat zu einem unheiligen Wildwuchs und zu einer bisher durch keinen Fortschritt gerechtfertigten, milliardenschweren Geschäftemacherei geführt.
6. Das clevere Geschäft mit der Vorsorge
Vor allem bei den Fachleuten unter den Leserinnen und Lesern möchte ich an dieser Stelle bei einem Punkt um Entschuldigung bitten: Ich folge in diesem Buch beim Zusammentragen der Kritik keiner medizinischen Systematik. Chirurgie, Pharmakologie, Nahrungsergänzungsmittel,
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