Die Weiße Ordnung
natürlich auch auf andere Weise dienen.« Noch ein Lächeln folgte. »Verstehen wir uns?«
»Ja, Ser.«
»Gut.« Broka hielt Cerryl plötzlich ein Buch unter die Nase, wobei der Schüler nicht gesehen hatte, dass der Magier es irgendwo weggenommen hätte. »Das ist Prestads Erklärung der Anatomie. Du wirst Abschnitt eins so lange lesen, bis du ihn verstanden zu haben glaubst. Wir sehen uns in einem Achttag wieder.«
Cerryl nahm das Buch entgegen.
Broka ging mit wiegenden Schritten zur Tür, breit grinsend, er öffnete sie und hielt sie auf; sein Lächeln war voller Hohn.
LI
I n Jesleks Gemächern herrschte unerträgliche Hitze – so wie in all den anderen Gemächern während der späten Sommertage vor der Ernte. Der Magier wandte sich vom Glas ab, ein Glas, das sich kurz zuvor noch in weißen Nebel gehüllt hatte; nun war es wieder ein einfacher Spiegel. Er starrte Kesrik an und danach Cerryl, bevor er mit der Prüfung fortfuhr.
Cerryl blieb regungslos mit dem Rücken zur Steinmauer sitzen.
»Ihr habt die ganze erste Hälfte der Farben der Weiße gelesen?« Jeslek blickte von Cerryl zu Kesrik.
»Ja, Ser.« Cerryl hatte jede Seite des ersten Teiles mindestens schon zweimal während der Achttage gelesen, die er als Magierschüler in den Hallen verbracht hatte; und davor hatte er ja auch schon darin studiert, aber das würde er niemals jemandem erzählen.
»Wir werden ja sehen.« Jeslek runzelte die Stirn. »Erklär mir dies: Selbst der weiseste Magier kann nicht das Geringste auf und unter der Erde wahrnehmen, wenn er dazu nicht das Chaos einsetzt .« Er sah Cerryl an. »Erkennst du die Stelle?«
»Ja, Ser.«
»Sag mir, was du glaubst, was sie bedeutet.«
Cerryl achtete nicht auf Kesriks unverhohlenes Grinsen und begann langsam und überlegt zu sprechen: »Licht wird durch Chaos in der Sonne geformt und wir sehen mithilfe des Lichtes. Ohne Licht, also ohne Chaos, könnten wir nichts sehen. In dem Buch steht auch, dass ein ausgebildeter Magier den Teil des Chaos-Lichts benutzen kann, den das Auge nicht sieht, um noch mehr wahrzunehmen.«
»Du hast den Teil gelesen. Was ist hiermit? Ordnung ist nur begrenzt vorhanden, Chaos hingegen unbegrenzt. Doch der Einsatz von Chaos ist eingeschränkt durch die Ordnung .« Jeslek lächelte gemein.
Cerryl schluckte. Er erkannte zwar die Wörter wieder, aber er hatte nie richtig darüber nachgedacht, was sie bedeuteten. Dennoch musste er eine Erklärung versuchen. »Chaos kennt keine Grenzen, aber wenn sich ein Magier die Macht des Chaos zunutze machen möchte, muss er sie seinem Willen unterwerfen. Und der Wille wiederum ist eine Form der Ordnung.«
Jesleks sonnengelbe Augen funkelten. »Willst du damit sagen, dass sich ein Weißer Magier mit Schwarzer Ordnung besudeln muss?«
»Nein, Ser. Ich verstehe es so: Ein Magier benutzt seinen Willen, um die Macht des Chaos für sich arbeiten zu lassen. Wenn sein Wille im Einklang mit dem Chaos steht, dann dient die Ordnung dem Chaos.«
Cerryl konnte Kesriks Enttäuschung fühlen und bei Jeslek eine gewisse Hochstimmung, eine Stimmung, die ihn ängstigte.
»Obschon das Chaos allmächtig ist und weder Regeln noch Grenzen kennt, unterwirft sich die Welt bestimmten Regeln, die sich niemals ändern. Wie wird das in den Farben erklärt?«
Cerryl konnte einen verstörten Gesichtsausdruck nicht verhindern. »Ser … da muss ich etwas überlesen haben. Es tut mir Leid. Ich erinnere mich überhaupt nicht an derartige Worte.«
»Das freut mich. Das steht nämlich nicht in den Farben der Weiße .« Jeslek nickte. »Bis morgen. Du kannst gehen. Ich erwarte, dass du das ganze Buch in weiteren zwei Achttagen beherrschst.«
»Ja, Ser.«
»Dann fangen wir mit der praktischen Ausbildung an.«
»Ja, Ser.«
»Du wirst sie nicht mögen. Keiner der Schüler tut das. Ich mochte sie auch nicht. Geh.«
Cerryl verbeugte sich, dann drehte er sich um und ging; einige Worte hörte er noch, bevor der Wächter die Tür wieder ins Schloss fallen ließ.
»Kesrik … wo hat der junge Cerryl zu einfach erklärt?«
Zu einfach? Wo hatte er etwas zu einfach erklärt? Cerryl ging den Flur entlang zu den Stufen und dann hinunter in den Speisesaal, wo er auf übrig gebliebenes Brot hoffte – oder auf sonstiges Essbares.
Jeslek hatte beim letzten Satz keinen veränderten Gesichtsausdruck erkennen lassen. Woraus stammten diese Zeilen? Aus einem verbotenen Buch? Oder hatte Jeslek sie einfach erfunden? Wie dem auch sei, er hatte Cerryl eine Falle
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