Die Weiße Ordnung
heraus und studierte sie. »Das ist der Fluss Gallos, vermute ich.«
»Ist es noch weit bis nach Fenard?«, fragte Ludren.
»Ja, ziemlich«, antwortete Cerryl. »Von jetzt an werden wir mehr Menschen begegnen. Fenard ist eine große Stadt.«
Cerryl freute sich nicht gerade, Fenard zu erreichen. Er konnte sich einen Misserfolg nicht leisten, denn wenn er lebend aus Fenard herauskam, ohne Jesleks Befehl auszuführen, würde Sterol sagen, er, Cerryl, hätte gleich mit Jeslek darüber reden müssen. Doch in dem Fall hätte Jeslek bestimmt versucht, Cerryl zu töten, und Cerryl war sich nicht sicher, ob er stark genug gewesen wäre, Jesleks Macht standzuhalten.
Er lachte in sich hinein. Wen versuchte Jeslek eigentlich zu täuschen? Er hätte Cerryl zu Asche verwandelt, hätte sich dieser geweigert, die Aufgabe zu übernehmen – anschließend hätte Jeslek allen erzählt, Cerryl hätte ihn angegriffen oder etwas in der Art. Es hatte einen Grund dafür gegeben, warum Anya und Fydel so kurz vor Cerryls Aufbruch auf eine andere Mission geschickt worden waren. Zweifelsohne hatte Jeslek ihnen gegenüber später behauptet, dass Cerryl weggerannt war. Und die Lanzenreiter? Sie würde man am wenigsten vermissen – vielleicht würden sie in die Verlustliste aufgenommen: nicht zurückgekehrter Spähtrupp; verloren an die feindlich gesinnten Galler, ein Grund mehr für Fairhaven, den Präfekten zu beseitigen.
»Verzeiht, Ser …?«
»Was so lustig ist? Nichts, eigentlich gar nichts.« Und doch war alles so aberwitzig. Wenn sie nahe genug an Fenard herangekommen waren, musste er sich auf den Dreh mit der Unsichtbarkeit verlassen, um in die Stadt hinein zu gelangen. Er hatte es nachts geübt, unbemerkt von den Lanzenreitern, und beherrschte diesen Kniff nun einigermaßen. Es bereitete ihm jedoch Sorgen, dass der Schild die Luft flimmern lassen könnte, so wie er es damals bei Anya beobachtet hatte. Doch … was blieb ihm anderes übrig?
Gelang es ihm, in die Stadt einzudringen, würde er einen Umhang brauchen, um seine weißen Kleider zu verbergen …
Cerryl schüttelte den Kopf. Im Augenblick wusste er nicht einmal genau, ab wann sie mit gallischen Lanzenkämpfern oder Soldaten rechnen mussten. Er betrachtete die Brücke und dann die Karte. Seiner Meinung nach befanden sie sich noch immer eineinhalb Tage von Fenard entfernt.
»Noch zwei Tage fast.« Er rieb sich das Kinn und bemerkte dabei, dass ihm ein Bart gewachsen war, wenn auch nur ein dünner – und er hatte den Rasierer nicht dabei. Den Rasierer einer gewissen Grau-Schwarzen Magierin …, der vielleicht das letzte Geschenk gewesen war, das er von ihr erhalten hatte. Er schob den Gedanken beiseite.
»So können wir Klybel auf dem Rückweg niemals einholen.« Ludren klang entmutigt.
Cerryl fragte sich, wie sich der übervorteilte Unteroffizier wohl fühlen würde, wenn er wüsste, dass es niemals geplant war, dass er die anderen Weißen Lanzenreiter einholte. »Solange Ihr am Ende nach Fairhaven zurückkehrt, ist das doch nicht wichtig, oder?«
»Ich glaube nicht, Ser. Und was ist mit Euch, Ser?«
»Ich habe eine Aufgabe zu erledigen. Danach werden wir weitersehen.« Was denn? Wie es dir gelingt, nach Fairhaven zurückzukehren und Jeslek und Sterol so lange zu bearbeiten, damit sie dich zum Magier ernennen? Warum? Weil die anderen Möglichkeiten noch aussichtsloser waren, zumindest über einen längeren Zeitraum gesehen. Fairhaven beherrschte beinahe alle Fürstentümer östlich der Westhörner oder würde sie bald beherrschen. Die Länder im Westen hassten Weiße Magier, genau wie Recluce.
Cerryl konnte sich vorstellen, sein Leben irgendwo als Bauer zu verbringen, doch das würde ein kurzes und elendes Leben werden. Außerdem hatte er schon genug Armut gesehen.
Dann wirst du es also mit der Gilde aufnehmen? Und vielleicht dadurch getötet werden?
Wieder lachte er leise.
»Ser?«
»Nichts. Nichts, was erfreulich wäre.« Cerryl faltete die Karte zusammen und steckte sie wieder in die Jackentasche. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
XCIX
D er grünblaue Himmel leuchtete klar und die Mittagssonne schien warm, wenn auch nicht zu warm. Ein leichter Wind, ziemlich eisig, blies aus den nicht sichtbaren Westhörnern, zerrte am Gras, das am Straßenrand wuchs, und an den wenigen Grasbüscheln, die aus der alten Mauer der Lehmstraße heraussprossen. Diese Mauer bestand lediglich aus lose aufeinander geschichteten grauen und schwarzen
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