Die Weiße Ordnung
Hätte es schon lange vorher tun sollen.«
Was tun? Cerryl wunderte sich, fragte jedoch nicht und stieg neben seinem Onkel weiter den Hügel hinauf. Seine Stiefel versanken im nassen Gras und in der matschigen Erde. Sein Haar war bereits tropfnass und der Regen sickerte durch den Kragen in die Jacke. Er schauderte, die Kopfschmerzen bereiteten ihm jedoch mehr Zittern als die Kälte des Wassers, das entlang seiner Wirbelsäule hinunterrann.
»Wünschte, du wärst älter, aber alles hat seine Zeit, und die ist jetzt gekommen …« Die bärbeißige Stimme des Bergarbeiters verstummte, als er unter einer dunklen Eiche stehen blieb, die Letzte in der Baumreihe, die von Dylerts Haus quer über den Hügel führte und die untere Wiese überblickte. Syodor griff in seine geölte Lederjacke und übergab Cerryl ein kleines, rechteckiges Päckchen – eingewickelt in ein altes Stück Stoff. »Das habe ich für dich mitgebracht, mein Junge. Mach es noch nicht auf. Der Regen würde sie zerstören.«
»Was … was ist das?« Cerryl erahnte ein schwaches Weißes Glühen, sogar durch das Tuch hindurch.
»Bücher, die Bücher deines Vaters. Ich wünschte, ich hätte dir die Buchstaben beibringen können.« Syodor zuckte die Achseln. »Wir dachten, es wäre am klügsten, niemand erführe, dass du lebst. Wir hatten Angst, dass jemand, der lesen kann, es den Magiern verraten würde. Sie wären gekommen, um dich zu holen.«
Cerryl musste sich zwar Wasser aus den Augen wischen, aber sein Gesicht blieb unbewegt, er tat auch die Kopfschmerzen einfach als nicht vorhanden ab. Schließlich fragte er: »Onkel, du hast es mir nie gesagt. Was ist mit meinem Papa geschehen? Und mit meiner Mama?«
»Die Weißen Magier haben deinen Papa umgebracht … mit ihrer Magie. Sie haben die Lanzenreiter hinter deiner Mama hergejagt. Am Ende haben sie sie erwischt. Da warst du schon bei uns in Sicherheit.« Syodor spähte unter seiner Lederkapuze hervor. »Wahrscheinlich wussten sie nur von ihr, aber nicht von dir. Du warst ein winziges Würmchen damals, nicht viel größer als meine Hand.«
»Aber warum?« Cerryl schluckte. »Was hat er getan?«
»Dein Papa … Ich weiß nicht … Nur deine Mutter wusste es, sie erzählte Nall einmal, dass er einige Bücher gestohlen hatte, weil niemand ihn lehren wollte. Er wollte ein richtiger Magier werden, kein Fels-Magier und auch nicht irgendein drittklassiger Magier. Irgendwo hatte er lesen gelernt. Hat uns aber nie gesagt, wo.« Der Bergarbeiter wandte seinen Blick von Cerryl ab und sah hinunter auf den feuchten Lehm der Straße, die zu den Minen führte.
Nach einer Weile zeigte Syodor auf die in das Tuch eingeschlagenen Bücher in Cerryls Hand. »Das … das könnten sie sein. Ich wollte sie schon verbrennen …« Er schüttelte den Kopf. »Dein Vater ist für sie gestorben. Vielleicht war er verrückt, weil er dachte, er hätte ein großer Magier werden können, wenn er nur aus reichem Hause gekommen wäre, aber wir können uns unsere Abstammung nicht aussuchen. Und selbst wenn … es wäre nicht richtig gewesen. Habe dich mit den Glasscherben gesehen.« Er lachte. »Hast wohl gedacht, dass wir nichts davon merken, was, Junge? Eines Tages … Egal, ich sehe, was aus dir geworden ist … Es wird Zeit, dass du sie bekommst.« Sein Gesicht wurde streng. »Sag aber niemandem etwas davon. Niemandem, hörst du? Die Magier denken vielleicht, die Bücher sind für immer verloren … aber wenn sie davon erfahren … Sie hören durch den Wind, nur nicht, wenn es regnet.« Ein bitteres Lächeln verzog seine Lippen. »Du bist wie sie. Dein Kopf … er tut weh bei Regen, stimmt’s?«
Cerryl nickte.
»Ihre Gläser … Ihre Magie … das fallende Wasser erschwert es ihnen zu sehen. Es fällt ihnen auch schwer, in Höhlen oder kleine Räume zu sehen … das hat deine Mama gesagt. Wie dein Vater … sie hat mehr gesehen als die meisten anderen …«
Cerryl wollte den Kopf schütteln oder schreien, oder irgendetwas anderes. Es gab so vieles, was er noch fragen wollte, aber sein Kopf schmerzte und er wusste nicht, wo er anfangen sollte. »Aber … warum … warum … haben die Weißen Magier sie umgebracht?«
»Weiß nicht genau … Sie hat es weder mir noch Nall je gesagt. Sie sagte, je weniger wir wissen, desto sicherer wärst du.«
»Sie musste gehen? Warum?«
»Die Lanzenreiter suchten sie überall … Shandreth hat mich sogar einst gefragt, ob ich sie gesehen hätte. Musste ihm sagen, nein, obwohl sie keine
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