Die Weiße Ordnung
als wollte er die Steifheit vertreiben. »Und du schreibst weiter.«
Cerryl nahm den Federkiel wieder zur Hand und sah noch einmal zu dem gleichmäßig gefärbten, grünen Stück Leder, das ausgezogen und zugeschnitten auf das Buch wartete. »Über das Binden weiß ich noch gar nichts.«
»Du willst wissen, junger Cerryl, warum ich dir über das Binden noch nichts beigebracht habe, außer dass du zuschauen durftest?«
»Ich will noch viel lernen«, versuchte Cerryl Zeit zu gewinnen. Vorsichtig stellte er die Feder wieder in den Halter. Er richtete sich auf und fragte sich, warum Tellis das Buch vor ihm verbarg.
Tellis lachte leise und deutete auf eine Seite, die der junge Mann am selben Tag geschrieben hatte. »Deine Handschrift ist schon besser als meine. Und da soll ich dich etwas anderes machen lassen?«
»Ihr wollt mir schmeicheln, Ser.«
»Nein, keineswegs, mein Junge, keineswegs.« Der Schreiber schüttelte den Kopf. »Warum machst du dir um das Binden solche Gedanken? Die Bindung ist nur dazu da, die Worte im Buch zu schützen – nicht mehr und nicht weniger. Ich tue wirklich mein Bestes, dass dieser Schutz schön aussieht, aber was nützt eine schöne Bindung, die über Jahre hinaus hält, wenn die Tinte auf dem Pergament zu kaum lesbaren Schatten schwindet?«
»Nichts, Ser. Nichts mehr, wenn die Tinte verblasst.«
»Das ist wieder etwas anderes, junger Cerryl. Jemand, der keine Ahnung von Büchern hat, nimmt an, dass jeder Abschreiber das tun kann, was ein echter Schreiber tut. Denkt auch nur ein Mensch über die Tinte nach? Tinte … man muss wissen, wie und in welchem Verhältnis man die Grundstoffe richtig mischt.« Tellis sah seinen Lehrling eindringlich an.
Cerryl nickte und befürchtete, dass dies wieder so ein Tag werden würde, an dem Tellis sich über etwas lang und breit ereiferte und dann darüber beklagte, dass Cerryl zu wenig geschrieben hatte.
»Nun … nenn mir die Bestandteile der gewöhnlichen Tinte.«
»Gallapfeldestillat«, begann Cerryl, »und der Extrakt aus den dunkelsten Eicheln, zusammen zu Sirup eingekocht, Rußschwarz, dazu eine Spur Süßsaft.«
»Nur eine winzige Spur«, unterbrach Tellis ihn. »Und die kräftigere Tinte?«
»Schwarzeichenrinde, Eisenvitriol …« Cerryl hielt inne. »Ihr habt mir nie die genauen Mengen verraten.«
Tellis zuckte mit den Schultern. »Wie könnte ich auch? Die Zusammensetzung der Galläpfel, Eicheln und Schwarzeichenrinde ist immer verschieden. Du musst dich in die Tinte hineinfühlen, so wie ich es tue, wenn du ein Meisterschreiber werden willst. Das gilt für alles im Leben.«
»Was?«
»Ist die Straße denn immer gleich, jedes Mal, wenn du sie überquerst? Oder ein Bach? Er scheint immer gleich zu sein … aber ist er das auch?«
»Wieder mal der alte Streit!« Ein freches Lachen hallte durch den Arbeitsraum, als Benthann über die Türschwelle trat. »Er kann schöne Reden halten, Cerryl, aber es sind doch nur Worte.« Sie ging auf Tellis zu. »Ich brauche Geld, ich muss zum Markt.«
Tellis stand auf. »Schreib weiter, Cerryl. Ich komme gleich wieder.«
»Ja, Ser.«
Während der Schreiber Benthann hinausfolgte in Richtung Küche und Wohnraum, säuberte Cerryl die Federspitze und schärfte sie mit dem Messer, bevor er sie wieder in die Tinte tauchte.
Ochsen veränderten sich nicht – Dylerts Ochsen hatten sich zumindest nicht verändert – und Tellis hatte behauptet, dass es auch die meisten Menschen nicht täten.
Seine Augen hefteten sich auf einen kleinen Tintenfleck auf der weißen Wand. Er würde nicht wie die meisten Menschen sein. Er nicht.
XXXIV
D er Morgen dämmerte bereits und Cerryl stand noch immer vor dem Wassereimer; Eis bildete sich an den Rändern. Wie lange würde der Winter wohl noch dauern? Er schauderte bei dem Gedanken, sich mit dem eiskalten Wasser waschen zu müssen. An den Bäumen bildeten sich noch keinerlei Knospen und die Blätter blieben grau, was bedeutete, dass der Frühling noch auf sich warten ließ. Cerryl hasste es, sich mit so kaltem Wasser waschen zu müssen, aber er verabscheute auch seinen Körpergeruch, wenn er sich nicht wusch.
Den Herd durfte er nicht benutzen, um sein Waschwasser zu erwärmen, wie Benthann es tat oder auch Tellis. Sie erwarteten von ihm, dass er sich mit Wasser wusch, das auf der Haut gefror. Das hielt er nicht für gerecht.
Er schüttelte den Kopf. Das ganze Leben war nicht gerecht. Es fragte sich, was man wohl dagegen tun konnte, aber er hatte nun mal
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