Die Weiße Rose
Zusammen mit anderen Freundenwar Otl Aicher im katholischen Jugendbund „Quickborn“ aktiv, der Romano Guardini nahe stand, einem reformorientierten und NS-kritischen Priester, der in Berlin wirkte. Mit ihren neuen katholischen Freunden unternahmen die Scholl-Brüder Skifahrten und gingen zum Fechtunterricht.
Mit den Jungen um Otl Aicher lasen und diskutierten die Scholl-Kinder philosophische und theologische Texte von Augustinus über Thomas von Aquin bis hin zu Maurice Blondel, einem modernen französischen Schriftsteller. Dazu traf man sich meistens im Haus der Scholls, das genügend Platz für die Diskussionsrunden bot. Der Kreis um Aicher verbündete sich schließlich mit den Scholl-Geschwistern. Zusammen gründete man den „Scholl-Bund“.
Aus dem Scholl-Bund ist in gewisser Weise die Weiße Rose hervorgegangen. Wie Barbara Schüler darlegt, 53 zeigte der Kreis um Otl Aicher den Scholl-Geschwistern den Weg aus ihrer NS-Verstrickung.
Otl Aicher, den Barbara Schüler den „Spiritus Rector“ 54 des Scholl-Bundes nennt, hatte sich wie Werner Scholl vom Nationalsozialismus nicht blenden lassen. Er machte die Scholl-Geschwister, vor allem Inge, Hans und Sophie, mit Dichtern und Denkern der französischen renouveau catholique bekannt, einer gesamteuropäischen religiös-christlichen Erneuerungsbewegung, die Ende des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 einsetzte. Die französische Gesellschaft, französischeLiteratur und Kunst sollten reformiert werden durch eine Rückbesinnung auf die Werte des Katholizismus. Das daraus resultierende christliche Menschenbild sollte eine universelle Bedeutung erhalten. Aus einer katholisch erneuerten Gesellschaft würde dann ein wiedererstarktes Frankreich erstehen.
In dieser Vision einer restaurierten Nation, die auf der Freiheit und Würde des Individuums und auf einer christlichen Grundlage beruhte, fanden die älteren Scholl-Kinder Antworten auf Fragen, die sie schon lange bedrängten. Barbara Schüler schreibt:
„Namentlich in dieser geistigen Strömung fanden Hans und Sophie Scholl und ihre Freunde – angeleitet vor allem durch Otl Aicher – die lang vergeblich gesuchte Synthese zwischen Individualismus, für den ihre protestantische Herkunft und ihre liberalen Traditionen standen, und Gemeinschaft, deren Pervertierung man in Kommunismus und Nationalsozialismus hautnah erfahren hatte. Der ‚integrale Humanismus‘ für den neben Leon Bloi, Georges Bernanos, Paul Claudel und Francis Jammes nicht zuletzt Jacques Maritain stand, wurde schließlich zur geistigen Basis, auf der man hoffte, nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur ein neues Abendland aufbauen zu können.“ 55
Mit dem von Schüler angeführten „integralen Humanismus“ ist ein Grundgedanke von Jacques Maritain gemeint, den er in seinem Hauptwerk „Christlicher Humanismus oder die Zukunft der Christenheit“ (dt. 1938) dargelegt hat. Darin beschreibt er einen „Dritten Weg“ als Auswegaus der „Vermassung“ und der „Vereinzelung“, die für ihn die Kennzeichen der Moderne sind.
Der Dritte Weg führt zur Rückbesinnung auf Gott als dem Schöpfer des Menschen, der durch die Erlösung zum Befreier wird. Er muss als die höchste Instanz anerkannt werden, aus der sich ein christlicher, ein „integraler“ Humanismus ableitet. Die Freiheit des Menschen besteht in der freiwilligen Bindung an Gott, denn der Höchste ist die Quelle von Freiheit und Würde. Ein integraler Humanismus muss Gott deshalb mitdenken. Ohne diese Rückbesinnung auf Gott sind wahrer Humanismus und echte Freiheit nicht möglich. Die Menschenrechte haben ihre Quelle in Gott dem Schöpfer und sind deshalb universell gültig.
Maritains Gedanken über die christliche Freiheit fielen bei den Geschwistern Scholl auf fruchtbaren Boden. Sophie Scholls Wahlspruch stammte von diesem christlichen Denker: „Il faut avoir l’esprit dur et le coeur tendre“ (Man muss einen klaren Verstand haben und ein sanftes Herz). Dieser Leitsatz begleitete sie bis unter das Fallbeil.
Doch vorerst musste die Familie Scholl versuchen, in Hitlers Reich zurechtzukommen. Besonders Hans musste vorsichtig sein. Er wusste, dass er den unauffälligen „Volksgenossen“ spielen musste, weil er nun der Gestapo bekannt war. Noch einmal Inge Scholl:
„Hans fiel dieses zwiespältige Leben besonders schwer. Schwerer noch und dunkler lastete auf ihm, dass er in einem Staat leben musste,
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