Die Weiße Rose
der Umschläge, das Verschicken der Briefe aus verschiedenen Städten usw. kosteten zweifellos viel Kraft, Energie und Mut. Nunist es kein Geheimnis, dass in der Wehrmacht – wie in anderen Armeen auch – großzügig Amphetamine ausgegeben wurden. Die neu entdeckten Psychodrogen wurden als Wundermittel angesehen, mit dem man die Leistungsfähigkeit von Flugzeug- und Panzerbesatzungen steigern konnte. An die Besatzungen von Fernaufklärern, Bombern und Nachtjagdflugzeugen wurden die „Pervitin“ genannten Pillen vor jedem Einsatz ausgegeben. Die euphorisierenden Tabletten sollten die Todesfurcht dämpfen, die Flieger mutiger machen und hellwach. 144
Vielleicht haben Schmorell, Graf und Scholl die psychoaktiven Substanzen während ihres Fronteinsatzes in Russland kennengelernt. In der Nähe des Hauptverbandsplatzes befand sich ein Feldflugplatz, auf dem sie manchmal Dienst taten. Für die angehenden Mediziner, vor allem für den Luftwaffensanitäter Probst, muss es ein Leichtes gewesen sein, Pervitin zu besorgen. Es ist denkbar, dass ein allzu sorgloser Einsatz dieses Mittels die jungen Männer unvorsichtig gemacht hat.
Eine Nebenwirkung des Amphetamin-Missbrauchs zeigte sich möglicherweise im Spätwinter 1942 bei Hans Scholl. Er erlitt einen paranoiden Schub und fühlte sich zunehmend beobachtet und verfolgt. Die Gestapo hatte aber bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Anhaltspunkte für einen Verdacht gegen ihn.
Möglicherweise hatten Hans und Sophie Scholl am Morgen des 18. Februar 1943 Pervitin eingenommen, als sie gegen 11 Uhr das Hauptgebäude der Münchener Universität betraten. Auf dem Weg zur Universitätbegegneten ihnen Will Graf und Traute Lafrenz, die sich darüber wunderten, dass ihre Freunde am helllichten Tag Flugblätter auslegen wollten.
Hans Scholl wollte die Flugblätter eigentlich alleine verteilen, doch seine Schwester wollte unbedingt mitkommen. Sie legten Exemplare des sechsten Flugblattes auf Fenstersimsen und in den Gängen aus. Die Geschwister hatten das Universitätsgebäude bereits verlassen, als sie auf dem Nachhauseweg merkten, dass sie noch Blätter übrig hatten. Kurz vor dem Ende von Prof. Hubers Vorlesung betraten sie erneut das Hauptgebäude. Sie gingen hinauf in das zweite Stockwerk. Sophie warf die restlichen Flugblätter leichtsinnigerweise von der Empore in den Lichthof der Eingangshalle hinab. Im Gestapo-Verhör sagte sie dazu aus:
„In meinen Übermut oder meiner Dummheit habe ich den Fehler begangen, etwa 80 bis 100 solcher Flugblätter vom 2. Stockwerk der Universität in den Lichthof herun-terzuwerfen.“ 145
Es stellt sich die Frage, warum eine kluge und beherrscht handelnde junge Frau wie Sophie Scholl so unüberlegt vorgehen konnte. Ich halte es für möglich, dass Sophie Scholl in einem Amphetamin-Rausch war. Es könnte sein, dass sie Pervitin genommen hat, um die Angst zu unterdrücken, die immer stärker auf den Geschwistern lastete. Seit dem Januar fühlte sich Hans Scholl von der Gestapo eingekreist.
Sie wurden von dem Universitätspedell Josef Schmid beobachtet. Er eilte den Geschwistern nach, holte sie einund forderte sie auf, zur Hausverwaltung mitzukommen. Noch lange nach dem Krieg rechtfertigte der Kleinbürger Schmid, der ein fanatischer Hitler-Anhänger war, seine Tat mit dem Hinweis, „dass man es Studenten nicht erlauben könne, die Universität in Unordnung zu bringen“. 146 Der Hausverwalter rief den Syndikus der Universität an. Dieser verständigte die Gestapo.
Die Frage, warum der große und sportliche Hans Scholl den eher kleinen und schmächtigen Schmid nicht einfach überwältigt hat, bleibt offen. Die Geschwister hatten eine Möglichkeit zur Flucht. Sie hätten nur den Pedell überwältigen brauchen, um unbemerkt aus der noch menschenleeren Eingangshalle zu fliehen.
Vielleicht hat sein Pervitin-Missbrauch Hans Scholl am rationalen Handeln gehindert. Vielleicht waren sie einfach nur froh, dass es endlich vorbei war.
Am 25. Februar 1943 wartete Falk Harnack in Berlin vergeblich auf Hans Scholl. Über seinen Vetter Dietrich Bonhoeffer hatte er ein Treffen mit Mitgliedern des militärischen Widerstands arrangiert. Es sollte über eine mögliche Zusammenarbeit zwischen dem Weiße-Rose-Kreis und den Verschwörern gesprochen werden, die das Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 planten. Harnack wusste nicht, dass Scholl zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr lebte.
133 Michael Kißener: Geld aus Stuttgart. Eugen Grimminger und die „Weiße
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