Die weissen Feuer von Hongkong
Leiche.«
Fred Kolberg kam noch am selben Abend zu dem Geschwader, das sich ›Flying Tigers‹ nannte.
II
BARRIKADE AUS SCHATTEN
Über Hongkong flimmerte die Luft in der unbarmherzigen Hitze des Hochsommers. Die hellen Wände der Hochhäuser
warfen das Sonnenlicht wie riesige Spiegel in die engen Straßen, denn auch dort, im Schatten, war es nicht kühler.
In der City schien das Leben um die Mittagszeit fast völlig zu ruhen. Die Jalousien vor den Schaufenstern waren herabgelassen, die Türen standen offen. Selten rollte ein Straßenkreuzer vorüber. Die Eisverkäufer dösten, und die Rikschamänner lagen schlafend in ihren Fahrzeugen. Dichtbesetzt waren nur die schattigen, künstlich gekühlten Terrassen der Hotels. Hier waren auch die Getränke kalt. In zwei, drei Stunden würde die Stadt wieder zum Leben erwachen, jetzt aber war die Stunde der Ruhe.
Die Luft war trocken, trotz der nahen See. Es mochte daran liegen, daß nicht die leiseste Brise wehte. Die Segel der Fischerboote, die vor Wanchai ankerten und vor Aberdeen, hingen schlaff. Auch hier, wo nur wenige Europäer wohnten, herrschte Ruhe. Der Tag begann mit Sonnenaufgang und endete erst nach Mitternacht. Also war die mittägliche Pause wohl verdient.
Ostwärts glänzte die See wie leicht bläuliches Perlmutt. Der Horizont verschwamm zu einer vagen grauen Linie. Nicht einmal die Rauchfahne eines Dampfers war dort draußen zu sehen. Es schien, als ob die ganze Welt sich entschlossen habe, eine kleine Atempause einzulegen.
Die Graham Road war nur einige hundert Meter von den Kais entfernt, an denen die Fähren anlegten, die von Kowloon kamen. Sie bestand aus zwei Reihen mehrstöckiger Geschäftshäuser, deren Fassaden bunt durcheinander mit englischen und chinesischen Reklameinschriften und Firmenzeichen geschmückt waren: aus Neonröhren gebildete riesige Füllfederhalter und Fotoapparate in einem halben Dutzend Farben, Schlipse und Uhren, Schuhe und Lippenstifte; dazwischen tummelten sich Drachen und Phönixe, verschlungene chinesische Schriftzeichen und Namenszüge. Im Schatten der Steingebäude saßen schlafend die Verkäufer von Nudeln und Amuletten, Erdnüssen und Mottenkugeln, Sesamkuchen und Räucherstäbchen. Von den Kais her kam zuweilen das schläfrige Tuten einer Schiffssirene. Aber das Geklirr der Kräne und Winden fehlte. Auch der Hafen hatte Ruhe.
Hongkong, die lockende Metropole des Lasters, das Zentrum der Schmuggler und Schieber, der Geschäftemacher und Abenteurer Ostasiens mochte zu dieser Stunde seinem Ruf nicht gerecht werden. Und doch war diese Stadt alles in einem: Schönheit und Armut, Sinnlichkeit und Hunger, Goldgrube und letzter Zufluchtsort gescheiterter Existenzen. Hier trug der bankrotte Gauner einen maßgeschneiderten Tropenanzug und sah geringschätzig an den halbnackten Hafenarbeitern vorbei, hier trippelte die reich gewordene Dirne auf Schuhen von Ferragamo über holpriges Gassenpflaster, in einem Kleid von Balmain, während die Frau eines Sampanfischers ihre Arbeit in einem zerschlissenen Männerhemd und einer Kalikohose versah. Die Kinder der Kolonialbeamten schlenderten zu den Tennisplätzen an der Repulse Bay, und
die Nachkommenschaft der Fischer und Rikschafahrer, der chinesischen Siedler und Schauerleute sah ihnen neidvoll nach. Dies war ein Paradies für den weißen Mann. Manchmal gab der weiße Mann von seinem zusammengegaunerten Reichtum sogar etwas ab, ließ ein Krankenhaus bauen oder eine Schule. Manchmal. Meist aber baute er Banken und Warenhäuser.
An dem Gebäude in der Graham Road, dessen Fenster hochmoderne amerikanische Klimaanlagen aufwiesen, waren die Namen verschiedener Unternehmen angebracht. Eine Exportgesellschaft für Kunstprodukte bewohnte das Erdgeschoß. Darüber befanden sich die Räume einer Schneiderei, die nur für das Wing-On-Kaufhaus in der Des Voeux Road Central arbeitete. In der nächsten Etage war, laut Ankündigung auf einer weißen Marmorplatte, das »Studio für Tanz und Fotografie«, geleitet von Miß Luise Lauffer.
Der Telegrammbote, der sein Fahrrad am Rinnstein abstellte, wischte sich den Schweiß von Stirn und Nacken. Er war jung und verzichtete darauf, den automatischen Fahrstuhl zu benutzen. Vor der Tür des Studios atmete er ein paarmal tief, um sich von dem anstrengenden Treppensteigen zu erholen, dann drückte er die Klingel. Ein Mädchen in einem leichten Hausmantel aus bestickter Seide öffnete ihm. Sie machte ein etwas enttäuschtes Gesicht,
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