Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Glas auf den nächstbesten Stehtisch und stürmte nach draußen.
Kerstin Diercke leistete keinen Widerstand, als Lydia und Salomon ein weiteres Mal vor der Tür standen. »Gibt es Neuigkeiten? Haben Sie diese Leonie gefunden?«
»Noch nicht«, antwortete Lydia knapp. »Wir müssen noch einmal mit Ihrer Tochter sprechen.«
»Ich verstehe.«
»Wie geht es Nora?«, fragte Salomon, während Kerstin Diercke durch den Flur voranging.
»Ein wenig besser«, antwortete die Frau. »Ich schätze, es hat ihr geholfen, sich dieses Geheimnis von der Seele zu reden.«
»Leider müssen wir davon ausgehen, dass das noch immer nicht die volle Wahrheit war«, sagte Lydia.
Kerstin Diercke hielt in der Bewegung inne, klopfte dann jedoch an die Zimmertür. »Nora, Liebes, die beiden Kommissare sind noch einmal gekommen.«
Von drinnen kam keine Antwort. Kerstin Diercke öffnete die Tür. Nora saß im Bett, Kopfhörer auf den Ohren, ein MP3-Player lag auf der Bettdecke. Ihr Gesicht war nicht mehr fiebrig rot, doch ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Sie ignorierte ihren Besuch, bis ihre Mutter das Gerät an sich nahm und ausschaltete.
»Ich habe alles gesagt«, murmelte sie und verschränkte die Arme.
»Kennst du das doppelte Lottchen?«, fragte Salomon ohne Einleitung.
Sie starrte ihn an, dann nickte sie langsam.
»Toni und Leonie haben es genauso gemacht wie die Zwillinge in dem Buch, stimmt’s? Sie haben die Rollen getauscht. Leonie ist als Toni zu den Bruckmanns gegangen, und Toni als Leonie zu den Schwarzbachs. Wann war das?«
Nora sah ihn nicht an, als sie antwortete. »Vor zwei Wochen ungefähr.«
»Und dann?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Nichts. Keiner hat was gemerkt.«
»Nicht einmal Tonis Eltern?«
»Nee, die doch nicht. Die sind eh nur mit sich selbst beschäftigt. Solange Toni ihre Hausaufgaben macht und pünktlich heimkommt, merken die nicht einmal, dass es sie gibt.«
Lydia schluckte und warf Salomon einen raschen Blick zu. Diese Einschätzung war neu. Sie entsprach nicht dem Bild, das sie bisher von den Bruckmanns gewonnen hatten. Zudem hatte Nora in der Gegenwart von Toni gesprochen. Das konnte allerdings auch bedeuten, dass sie den Tod ihrer Freundin noch nicht verinnerlicht hatte.
»Aber Leonie kann nicht Geige spielen«, warf Salomon ein.
»Sie hat so getan, als hätte sie sich die Finger geklemmt.«
»Wie lange sollte diese Verwechslungskomödie dauern?«
»Eigentlich nur einen Tag.« Nora zögerte. »Aber dann hat Leonie vorgeschlagen, eine ganze Woche weiterzumachen. Toni wollte erst nicht, ich glaube, bei Leonies Familie war es nicht so toll, sie wollte nicht mehr dorthin zurück. Leonie hat sie überredet.«
»Überredet oder erpresst?«, fragte Lydia.
Nora fummelte an dem MP3-Player herum, den ihre Mutter ihr wieder ausgehändigt hatte. »Sie hat gesagt, dass sie sonst das mit dem Klauen erzählt.«
»Also haben die beiden die Vertauschung verlängert?«
Nora nickte. »Eine Woche. Toni war echt froh, als sie endlich zu Hause war. Sie hat gesagt, dass sie das nie wieder machen will.«
Langsam bekam Lydia eine Vorstellung davon, was am vergangenen Dienstag geschehen sein musste. Sie ertappte sich bei dem Wunsch, Walter Palmerson wäre der Täter gewesen.
»Aber Leonie wollte mehr«, sagte sie mit belegter Stimme.
Nora nickte wieder, sagte jedoch nichts.
»Wer war am letzten Dienstag bei dir, Nora?«, fragte Salomon. »War es wirklich Toni?«
Lydia hörte, wie Kerstin Diercke neben ihr einen erschrockenen Laut von sich gab. Auch sie schien langsam das ganze Ausmaß der Tragödie zu begreifen.
Nora antwortete nicht.
»Nora!«, sagte Salomon nachdrücklich. »Wir müssen das wissen. Es ist sehr wichtig. Wen hast du letzte Woche Dienstag nach Hause begleitet, Toni oder Leonie?«
»Toni. Ehrlich!«
»Und was ist geschehen, als ihr im Haus der Bruckmanns angekommen seid?«
Nora biss sich auf die Lippe, Tränen liefen über ihre Wangen. »Leonie war da.«
Lydia fiel etwas ein. »War sie es, die kurz vorher hier angerufen hat?«
Nora nickte. »Sie hat gesagt, dass sie für einen ganzen Monat tauschen will. Sie hat uns gedroht, angeblich hatte sie Fotos von uns gemacht, als wir geklaut haben. Toni hatte Angst. Sie hat geweint.«
»Was geschah dann?«, fragte Salomon.
Nora zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich bin nach Hause gegangen.«
»Du bist einfach fortgegangen und hast Toni mit dieser Erpresserin allein gelassen?«, fragte Lydia. »Das glaube ich nicht, Nora.
Weitere Kostenlose Bücher