Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Toni war deine Freundin. Du hättest sie nicht einfach so im Stich gelassen!«
»Ich wollte ja dableiben. Aber Toni hat mich weggeschickt. Sie wollte das allein regeln. Ich konnte doch nicht wissen, dass …«
Kerstin Diercke drängte sich zwischen ihnen durch und nahm ihre Tochter in den Arm. »Es ist nicht deine Schuld, Liebes. Du hast nichts falsch gemacht.« Sie drehte sich zu Lydia und Salomon um. »Ich denke, es wäre besser, wenn Sie jetzt gehen.«
»Wir sind noch nicht ganz fertig«, sagte Lydia. Sie wollte sich nicht noch einmal mit halben Wahrheiten abspeisen lassen. »Nora, ich glaube nicht, dass du gegangen bist. Du hast deine Freundin nicht allein gelassen. Aber du konntest ihr nicht helfen. Ist es nicht so? Du hast mitbekommen, was passiert ist. Du konntest es nicht verhindern. Es ging alles viel zu schnell. Es war ein Unfall. Toni und Leonie haben sich gestritten, und noch ehe du eingreifen konntest, ist eine von beiden die Treppe hinuntergestürzt. Genau so war es, nicht wahr, Nora?«
Nora senkte den Kopf.
»Stimmt das, Nora?«, fragte Kerstin Diercke mit kaum hörbarer Stimme. »Warst du dabei? Hast du gesehen, wie es passiert ist?«
»Nein!« Nora ballte die Fäuste und starrte ihre Mutter wütend an. »Nein, nein! Ich war schon weg! Ich habe nichts gesehen!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte.
Lydia sah Chris an, der mit den Schultern zuckte.
»Wir sollten gehen«, sagte er.
»Warum sagt sie nicht die Wahrheit?«, zischte Lydia. Wut stieg in ihr auf, dieses Mädchen führte sie schon die ganze Zeit an der Nase herum.
»Weil sie ihre Freundin beschützen möchte.« Salomon berührte sie am Arm. »Komm«, raunte er ihr zu. »Wir versuchen es morgen noch mal.«
Widerstrebend verließ sie mit Salomon die Wohnung.
»Wir haben doch jetzt eine ganz gute Vorstellung davon, was geschehen ist«, sagte er, als sie am Wagen waren. »Das sollte fürs Erste genügen.«
»Bist du dir sicher? Bisher hat sich fast alles, was Nora uns erzählt hat, als Lüge entpuppt.«
»Ich glaube auch, dass sie die Tat gesehen hat«, räumte Salomon ein. »Doch das ändert nichts mehr an den Fakten: Das eine Mädchen hat das andere im Streit die Treppe hinuntergestoßen. Vermutlich ist das Opfer Leonie Schwarzbach und nicht Antonia Bruckmann. Darauf weisen die Magenschleimhaut und die fehlende Narbe hin.«
»Was wir noch überprüfen müssen.«
»Ich weiß.« Salomon seufzte.
»Lass uns fahren.«
Sie stiegen ein.
Salomon lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Ich sage das nur selten, aber jetzt könnte ich wirklich einen Drink gebrauchen.«
Lydia zuckte zusammen. Unvermittelt musste sie an die Flasche in ihrem Schreibtisch denken. Eigentlich hatte sie ihm nichts davon sagen wollen, aber jetzt war es ihr egal. »Ich muss dir was zeigen, Salomon.«
Er öffnete die Augen und sah sie an. »Was?«
»Lass dich überraschen.«
Die Festung wirkte wie ausgestorben, von irgendwoher wehte ein schwacher Duft nach Tannenzweigen und Kerzenwachs, wohl die Hinterlassenschaft einer Weihnachtsfeier. Im Korridor des KK 11 war es stockduster.
Lydia schloss das Büro auf, ging zu ihrem Schreibtisch und zog die untere Schublade auf. »Das hat irgendwer hier reingelegt. Nicht du, nehme ich an?«
Salomon schaltete das Licht ein und beugte sich über die Schublade. Als er die Flasche sah, stieß er einen Pfiff aus. »Hast du einen Verdacht, wer das getan haben könnte?«
»Den gleichen wie du.«
»Hackmann.« Er sah sie an. »Dann sind die Zettel mit den Drohungen und die Flasche von ihm?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Lydia zögernd. »Irgendwie passt das nicht, oder? Andererseits wüsste ich nicht, wer sonst dafür infrage käme.«
Salomon runzelte die Stirn. »Die Zettel sind albern und letztendlich harmlos, aber das hier ist echt fies. Das könnte dir einen Höllenärger einbringen.«
»Allerdings.«
Salomon hockte sich vor die Schublade. »Hast du sie schon angefasst?«
»Fingerabdrücke?«
»Könnte doch sein.«
Lydia verzog das Gesicht. »Hackmann ist ein Arschloch, aber er ist nicht dumm.«
»Vermutlich hast du recht.« Salomon erhob sich wieder. »Was hast du jetzt vor?«
»Das Beweisstück vernichten. Hilfst du mir dabei?«
»Vernichten?« Salomon blinzelte irritiert.
»Ich dachte, du könntest einen Drink gebrauchen?«
Er grinste. »Ich bin dabei. Allerdings würde ich eine nettere Umgebung vorziehen.«
»Wie du weißt, wohne ich ganz in der Nähe. Wenn du magst …« Sie brach
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