Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Mutter hatte eine romantische Ader. Na ja, es hätte mich auch noch schlimmer treffen können.« Sie zwinkerte. »Sie können mich Rafi nennen.«
Halverstett klappte die Kinnlade herunter. Rafi. Der geheimnisvolle Liebhaber, der Ritas Leben auf den Kopf gestellt hatte. Rafi – eine Frau.
»Oh, hallo, Rafi«, stammelte er.
»Hallo.« Sie grinste. Dann zog sie Rita auf den Flur.
Die Tür fiel zu. Halverstett blieb allein zurück und versuchte zu begreifen. Er hätte schwören können, dass Rita das Wort »er« benutzt hatte, wenn sie von Rafi sprach. Oder hatte er sich das nur eingebildet? Hatte er automatisch die falschen Schlüsse gezogen? War das typisch für sein Geschlecht, selbstredend davon auszugehen, dass ein Mann dahinterstecken musste, wenn eine Frau verliebt war?
Lydia unterdrückte ein Gähnen. Seit Stunden wälzten sie nun Akten, ohne dass sie neue Erkenntnisse gewonnen hatten. Es fehlten die entscheidenden Informationen, vor allem das Ergebnis der DNA -Untersuchungen. Eben hatte sie noch einmal beim LKA angerufen und klargemacht, wie dringend der Fall war, doch es hatte nichts genützt.
»Wir haben Dutzende dringende Fälle hier liegen«, sagte der Beamte. »Sie sind leider nicht die Einzigen, die auf ein Ergebnis warten.«
»Und ist bei denen auch ein Kind verschwunden?«, fragte Lydia ärgerlich.
»Als die Spurenträger hier ankamen, war noch nicht von einem vermissten Kind die Rede«, entgegnete der Mann.
»Aber jetzt.«
»Morgen früh.«
Genervt hatte sie aufgelegt. Wenn sie wenigstens bei der Fahndung Erfolg hätten! Doch auch da herrschte Funkstille. Es war, als hätten Leonie und Olaf Schwarzbach sich in Luft aufgelöst.
»Fuck«, murmelte Salomon.
»Was ist los?«
»Fuck! Fuck!«
»Hey, Salomon, sprich mit mir! Hast du was?«
Er sah auf. »Nur eine Idee.«
Sie legte den Kopf schief. »Und?«
Er hob ein Blatt Papier hoch. »Kennst du das doppelte Lottchen?«
»Das Buch?« Lydia starrte ihn an. Eigentlich war Erik Schmiedel derjenige, der seine kriminalistische Inspiration aus literarischen Texten bezog.
»Ja. Kennst du die Geschichte?«
»Nein. Du etwa? Ist das nicht ein Mädchenbuch? Sag bloß, du hast es gelesen?«
»Das ist doch wohl egal, woher ich die Geschichte kenne, oder?« Er klang verletzt.
»Natürlich«, sagte sie schnell. »Was wolltest du sagen?«
»In dem Buch geht es um Zwillingsschwestern, die nichts voneinander wissen. Die eine lebt beim Vater, die andere bei der Mutter. Sie treffen sich zufällig und beschließen, die Rollen zu tauschen.«
»Verdammt, ja!«, rief Lydia. »Das ist es!«
Salomon wedelte mit dem Blatt. »Der Grundriss, den wir in Tonis Papierkorb gefunden haben. Ich wette, der war für Leonie. Toni konnte sie ja nicht mit nach Hause bringen und ihr alles zeigen. Es durfte sie niemand zusammen sehen. Dass sie sich begegnet waren, sollte ihr Geheimnis bleiben. Also hat sie alles aufgezeichnet.«
»Ja, natürlich, das würde eine Reihe von Ungereimtheiten wie die verletzten Finger erklären. Das war dann nämlich nur eine Ausrede, weil Leonie nicht Geige spielen kann.«
»Eben.«
»Und als Nicole Bruckmann gesehen hat, wie ihre Tochter Salz schlucken wollte, da hat sie Leonie, nicht Toni, erwischt. Vielleicht hat Leonie versucht, sich die Aufmerksamkeit von Nicole Bruckmann mit den gleichen Mitteln zu sichern wie die ihrer eigenen Mutter. Vielleicht konnte sie diese Gewohnheit nicht so einfach ablegen.«
»Das tote Mädchen hatte eine gereizte Magenschleimhaut«, sagte Salomon nachdenklich.
Lydia nickte. »Was dafür sprechen würde, dass es Leonie ist.«
»Genau. Wir müssen Maren Lahnstein morgen früh gleich als Erstes nach der Narbe fragen.« Salomon verzog das Gesicht. »Nora hat bestimmt von dem Tausch gewusst. Was bedeutet, dass sie uns noch immer nicht die ganze Wahrheit erzählt hat.«
»Aber warum?«
»Ich weiß nicht.«
Lydia dachte nach. »Was, wenn sie dabei war? Wenn sie weiß, dass Toni das andere Mädchen in den Tod gestoßen hat? Wenn sie ihre Freundin schützen will?«
»Und dafür muss Toni für alle Zeiten als Leonie bei der Familie Schwarzbach bleiben?«
»Die Mädchen sind zehn Jahre alt. Sie haben das bestimmt nicht zu Ende gedacht.«
»Ja, du hast recht. Es wäre möglich.« Salomon runzelte die Stirn. »Also schützt Nora die tatsächliche Toni und Olaf die vermeintliche Leonie.«
Lydia lehnte sich zurück. »Das ist vollkommen absurd, aber absolut möglich.«
»Bis wir eine sichere Identifizierung
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