Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
mehr von ihm wollte, eine Beziehung vielleicht oder irgendein Bekenntnis. Wahrscheinlich wollte sie nicht einmal darüber reden, schließlich sprach sie ansonsten auch nicht gern über sich. Trotzdem hatte Chris das Gefühl, dass von seinem Verhalten, von seinem Umgang mit dem, was gestern Abend geschehen war, ihre zukünftige Zusammenarbeit abhing, vielleicht sogar sein Job, seine Karriere bei der Polizei.
Er winkte dem Portier und betrat das Foyer. Gerade als er überlegte, ob er erst in der Kantine einen Kaffee trinken sollte, kam Lydia im Laufschritt die Treppe herunter.
»Du kannst gleich wieder umdrehen«, rief sie ihm zu. »Wir müssen los.«
Eine Woge der Erleichterung überrollte ihn. Es gab Arbeit. Etwas, das wichtiger war als ihre privaten Befindlichkeiten. Er schickte ein Dankgebet an einen Gott, an den er nicht glaubte, und folgte ihr zurück nach draußen.
Erst als sie im Auto saßen, fragte er: »Was ist passiert?«
»Eine Frau hat unseren Exhibitionisten wiedererkannt. Er ist ihr Nachbar.«
Mehr sagte Lydia nicht. Und er stellte keine weiteren Fragen. Schweigend fuhren sie nach Vennhausen. Chris starrte aus dem Fenster, vermied es, zu ihr hinüberzusehen. Kein Blickkontakt, kein Gespräch, kein peinliches Gestammel. Die Höflichkeit oder der Anstand hätten es vermutlich verlangt, Lydia anzusprechen. Sich zu erkundigen, ob alles in Ordnung sei. Ob sie darüber reden wolle. Doch er zog es vor, unhöflich zu sein. Es war ein einmaliger Ausrutscher gewesen. Eine Verzweiflungstat. Er war in Sonja verliebt. Wenn es etwas zu bereden gab, dann mit ihr.
Sie hielten vor einem dreistöckigen Mietshaus aus den siebziger Jahren. Ein grauer Betonklotz mit schmuckloser Fassade. Große Balkone zur Straße hin. Ein Streifenwagen parkte vor den Garagen, zwei Kollegen in Uniform warteten vor dem Eingang.
»Frau Louis?«, fragte der eine.
»Ist er im Haus?«, fragte sie zurück.
Der Polizist nickte. »Wir haben noch nicht geklingelt, doch er war eben am Fenster. Brauchen wir das SEK?«
Lydia warf Chris einen kurzen Blick zu, dann schüttelte sie den Kopf. »Wir gehen so rein. Der Typ ist ein Exhibitionist, kein Killer. Es ist nicht zu erwarten, dass er sich der Festnahme widersetzen wird, und eine Waffe besitzt er vermutlich auch nicht.« Sie nickte ihm zu, und er betätigte die Klingel.
Chris zog die Hände aus der Jacke, als der Türöffner summte, und schlüpfte mit den anderen ins Haus. Er ärgerte sich, dass er vor lauter Angst, den Mund aufzumachen, versäumt hatte zu fragen, was sie über den Tatverdächtigen wussten. Er hasste es, unvorbereitet zu sein. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend stieg er die Treppe hinauf. Der mutmaßliche Exhibitionist erwartete sie an der Tür. Chris wurde schlagartig klar, warum die Zeugenaussagen so widersprüchlich waren. Der Mann war nicht besonders groß, dafür aber sehr schlank, was seinen Körper optisch in die Länge zog. Sein Haar war schmutzig dunkelblond, sodass die grauen Strähnen darin kaum auffielen. Auch die Brille nahm man erst auf den zweiten Blick war. Sie fügte sich perfekt in das Gesicht ein, fiel eigentlich nur dadurch auf, dass sie die Augen stark vergrößerte.
Lydia schickte die beiden Streifenbeamten voraus in die Wohnung, während sie den Mann ansprach. »Walter Palmerson?«
»Ja. Was gibt es denn?« Der Mann schaute arglos drein, doch Chris sah, dass seine Hände zitterten.
»Können wir uns drinnen unterhalten?«, fragte Lydia.
Er nickte, und sie traten ein. Die beiden Uniformierten hatten die Wohnung inzwischen durchsucht.
»Niemand sonst hier«, sagte der eine, der offenbar die Rolle des Sprechers innehatte.
»Gut. Bitte wartet kurz. Wir möchten ihm ein paar Fragen stellen, dann könnt ihr ihn aufs Präsidium bringen.« Lydia drehte sich wieder zu Palmerson um, der ans Fenster getreten war. »Sie gehen öfter im Eller Forst spazieren, Herr Palmerson?«
Er zuckte mit den Schultern. »Manchmal.«
»Und gestern?«
»Kann sein, dass ich dort war.«
»Kann sein genügt nicht.« Lydias Stimme war eine Spur schärfer geworden. »Waren Sie gestern im Eller Forst?«
»Spazieren, ja. Ist das verboten?«
»Kennen Sie eine Katja Kramer?«
»Nein.« Er schien überrascht, dann blitzten seine Augen auf. »Das ist das Mädchen mit dem Fahrrad, ja?«
Chris trat näher. »Was ist geschehen, Herr Palmerson? Was war mit dem Mädchen auf dem Fahrrad?«
»Sie ist gestürzt. Ich fürchte, ich habe sie erschreckt, weil ich so plötzlich
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