Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
keine Anstalten, die Tür zu öffnen.
Olaf Schwarzbach warf einen nervösen Blick in Richtung Haus. Nicht dass Melanie im letzten Augenblick noch etwas merkte! »Ich sagte doch, dass ich es dir unterwegs erkläre«, versicherte er. »Du musst keine Angst haben. Es ist alles in Ordnung.«
Er war ein schlechter Lügner. Leonie blickte drein, als führe man sie zu ihrer Hinrichtung. Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie eingeschüchtert seine Tochter war. In ihrem Gesicht war keine Spur von Lebensmut zu erkennen, nicht ein Funke Neugier. Nur Resignation. Der Anblick bestärkte ihn in seinem Vorsatz. So konnte es nicht weitergehen. Auch wenn Leonie es vielleicht noch nicht begriff, er war dabei, ihr das Leben zu retten.
Er trat zu ihr und fuhr ihr sanft über das Haar. »Es wird alles gut, Liebes. Ich bin bei dir, ich passe auf dich auf.«
Thomas Hackmann stand auf dem Korridor und starrte auf die verschlossene Tür. Der Schlüssel in seiner Hand fühlte sich bleischwer an. Er zögerte, wog ihn in der Hand. Doch es käme einem Selbstmord gleich, die Tür aufzuschließen, am helllichten Tag, während es überall vor Kollegen wimmelte. Er seufzte. Erst ein einziges Mal hatte er den Schlüssel ausprobiert, hatte in Lydias Schreibtisch herumgewühlt und auf ihrem Computer nach verfänglichen Dateien gesucht. Leider ohne Ergebnis, wenn man von der Packung Kondome in der oberen Schublade absah.
Und dann war ihm dieser Kölner auch noch auf die Schliche gekommen, weiß der Himmel, wie er das angestellt hatte. Nein, er durfte es nicht riskieren, den Schlüssel noch einmal zu benutzen. Wirklich bedauerlich, denn er war sicher, dass Lydia einiges zu verbergen hatte. Doch für den Augenblick musste er sich damit zufrieden geben, dass er einen Schlüssel besaß und jederzeit Zugang zu Lydias Büro hatte. Dass er in ihr Leben eindringen konnte, wann immer es ihm beliebte. Das war immerhin ein Anfang.
Eine Tür knallte, Hackmann zuckte zusammen. Doch niemand näherte sich. Er steckte den Schlüssel in seine Hosentasche. Irgendwie würde er Lydia kleinkriegen. Vielleicht musste er nicht einmal etwas über sie herausfinden, vielleicht reichte es, wenn er sie fertigmachte. Sie war schließlich eine Frau, was hatte sie ihm schon entgegenzusetzen? Er grinste. War sie nicht eine Zeit lang regelmäßig zu dieser Psychotante gegangen? Also war sie mit Sicherheit labil, auch wenn sie immer die Starke spielte. Hieß es nicht: harte Schale, weicher Kern? Er musste diesen Kern bloß freilegen. Dann konnte er mit ihr machen, was er wollte.
Den Schlüssel hob er sich für eine besondere Gelegenheit auf. Bis dahin musste er sich in Geduld fassen. Hackmann überlegte. Vielleicht gelang es ihm ja, sich auch noch den Schlüssel zu ihrer Wohnung zu beschaffen. Das wäre absolut grandios. Geiler als Sex. Wenn sie ihm dann blöd kam, konnte er sich entspannt zurücklehnen, denn in seiner Hosentasche steckte der Schlüssel zur Macht.
Sie hatten beschlossen, Walter Palmerson dem Duo Meier und Schmiedel zu überlassen und zu den Bruckmanns zu fahren. Lydias Schädel hatte angefangen, leise zu pochen, als sie durch den Vorgarten auf das Haus zugingen. Salomon klingelte. Es dauerte ziemlich lange, bis im Haus Geräusche zu hören waren. Die Tür wurde einen Spaltbreit aufgezogen.
»Ach Sie.« Nicole Bruckmann schien erleichtert. »Ich dachte, es sei schon wieder die Presse. Die lassen einen nicht in Ruhe.«
Sie gingen ins Wohnzimmer. Seit sie das letzte Mal hier gewesen waren, am Tag von Antonias Tod, hatte es sich verändert. Schmutzige Gläser standen herum, Zeitungen türmten sich auf dem Boden, und auf dem Tisch lag die Informationsbroschüre eines Beerdigungsinstituts. Nicole Bruckmann warf das Heft achtlos auf den Zeitungsstapel und ließ sich in den Sessel fallen. Heute trug sie keinen Bademantel, sondern eine braune Cordhose und eine weinrote Bluse. Beides sah zerknittert aus, als hätte sie darin geschlafen. Sie bot ihnen nichts zu trinken an, worüber Lydia erleichtert war. Da es keine anderen Sitzgelegenheiten gab, nahmen Salomon und sie nebeneinander auf dem Sofa Platz. Beim Hinsetzen berührten sich ihre Schultern, und sie zuckte unwillkürlich zurück.
Salomon räusperte sich. »Ihr Mann ist nicht da, Frau Bruckmann?«
»Er macht ein paar Besorgungen.« Nicole Bruckmann wirkte müde, doch bei Weitem nicht so hilflos und am Boden zerstört wie beim letzten Mal. Lydia fragte sich, ob sie sich bereits mit dem Tod ihrer Tochter abgefunden
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