Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
kennengelernt.
Olaf Schwarzbach räusperte sich, und Lydia drehte sich zu ihm um.
»Ich würde gern mit Leonie sprechen«, sagte sie ohne weitere Erklärung.
»Worüber denn?« Immer noch wirkte er misstrauisch.
»Antonia Bruckmann. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Olaf Schwarzbach schüttelte den Kopf. Er sah zugleich verwirrt und erleichtert aus. »Wer ist das? Ein Mädchen aus Leonies Schule?«
»Das glaube ich nicht. Es sei denn, Ihre Tochter geht in die Rudolf-Steiner-Schule in Gerresheim.«
»Nein. Sie ist auf einer normalen Grundschule, hier in Wersten.« Er wirkte jetzt entspannt.
Lydia erwog herauszufinden, vor welcher Frage Schwarzbach Angst gehabt hatte, doch sie verwarf den Gedanken sofort. Das hatte nichts mit ihrem Fall zu tun, und im Grunde interessierte es sie auch nicht. Also konzentrierte sie sich auf ihr eigentliches Anliegen. »Und Sie haben noch nie von Antonia gehört? Oder von Toni?«
»Nein. Der Name sagt mir nichts. Was ist denn mit dem Mädchen? Ist ihr etwas zugestoßen?«
Lydia zögerte. »Sie wurde ermordet. Haben Sie nicht in der Zeitung davon gelesen?«
»Ermordet? Wie furchtbar!« Schwarzbach schüttelte den Kopf. »Was für eine schreckliche Welt.« Er sah Lydia an. »Davon wusste ich nichts. Ich komme selten dazu, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Ich leite ein kleines Unternehmen. Da ist immer viel zu tun.« Er nahm auf dem Sofa Platz und deutete auf den Sessel. »Setzen Sie sich doch. Ermordet, tatsächlich? Das ist wirklich schlimm. Aber was hat das mit Leonie zu tun?«
»Angeblich haben Antonia und Leonie sich vor ein paar Wochen angefreundet.« Lydia ließ sich auf dem Sessel nieder. Er war hart und unbequem. »Es könnte sein, dass Ihre Tochter etwas weiß, das uns weiterhilft.«
»Ich verstehe.«
»Könnte ich sie jetzt sprechen, bitte?«
»Das geht leider nicht.« Schwarzbach wirkte mit einem Mal wieder angespannt.
Lydia musterte ihn argwöhnisch. »Warum nicht?«
»Sie ist krank. Es geht ihr nicht gut.«
»Es geht ganz schnell. Ich habe nur ein paar Fragen.« Sie beugte sich vor. »Es ist wirklich wichtig.«
Olaf Schwarzbach stand auf. »Ich kann Ihnen im Augenblick nicht erlauben, mit meiner Tochter zu sprechen«, sagte er mit entschlossener Stimme. »Bitte verlassen Sie jetzt mein Haus.«
Lydia starrte ihn an, erstaunt über den erneuten Stimmungsumschwung. So einfach wollte sie sich nicht abwimmeln lassen. »Könnte ich dann wenigstens mit Ihrer Frau reden? Vielleicht weiß sie etwas.«
»Nein, sie hat auch noch nie etwas von dieser Antonia gehört. Außerdem ist sie nicht da.« Er ging in Richtung Diele und blieb auffordernd auf der Schwelle stehen.
Lydia erhob sich und folgte ihm zur Haustür. »Ich komme wieder, wenn es Ihrer Tochter besser geht.«
Schwarzbach erwiderte nichts. Er schob sie beinahe zur Tür hinaus und knallte sie zu, kaum dass Lydia vor das Haus getreten war. Nachdenklich blickte sie an der Fassade hoch. In keinem der Fenster im oberen Stockwerk brannte Licht. Aber das musste nichts bedeuten. Wenn Leonie krank war, schlief sie vielleicht, und Melanie Schwarzbach war ja angeblich nicht zu Hause. Hatte Schwarzbach nicht am Anfang ihres Gesprächs behauptet, dass seine Frau nicht ganz gesund sei? Lydia überlegte kurz, ob sie noch einmal klingeln und den Mann mit seiner Lüge konfrontieren sollte, doch dann fiel ihr ein, dass sie dringend zu Palmerson ins Krankenhaus fahren musste, schließlich war er ihr Hauptverdächtiger. Auf ihn sollte sie sich konzentrieren. Dieses Herumschnüffeln im Leben fremder Familien förderte zwar eine Menge Dreck zutage, jedoch vermutlich kaum Antonia Bruckmanns Mörder.
Chris Salomon schloss die Tür auf, nahm den Karton und betrat das Haus. Ein fremder Geruch empfing ihn, Sonjas Parfüm und etwas anderes, das er nicht einordnen konnte. Eine sich langsam verflüchtigende Erinnerung an die vergangene Nacht. Mit dem Fuß schob Chris die Tür zu. Im Dunkeln tastete er sich in die Küche und stellte den Karton auf dem Tisch ab. Noch bevor er das Licht einschaltete, öffnete er den Kühlschrank und nahm eine Flasche Kölsch heraus. Der erste Schluck tat unendlich gut, war herb, kühl und tröstlich. Er hatte Sonja auf den nächsten Morgen vertröstet, ihr ein fürstliches Frühstück im »Bastian’s« versprochen. Er brauchte Ruhe, Zeit für sich. Sie hatte verständnisvoll reagiert, sie arbeitete in Schichtdienst im Krankenhaus und wusste, dass man manchmal nach einem harten Arbeitstag allein sein
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