Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
musste.
»Ich werde dich beim Wort nehmen und Champagner und Kaviar bestellen«, hatte sie lachend gesagt.
Und er hatte seine Entscheidung schon fast wieder bedauert, eine plötzliche, fast schmerzhafte Sehnsucht nach ihr verspürt, nach ihrem unbekümmerten Lachen, ihrem warmen, weichen Körper.
Chris trank noch einen Schluck Bier, schaltete das Licht an, ging zurück zum Tisch und betrachtete den Karton. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das zum letzten Mal getan hatte, heimlich Beweisstücke aus dem Präsidium geschmuggelt, um sie in seinen eigenen vier Wänden in aller Ruhe durchzusehen. So manches Mal war ihm dabei die entscheidende Idee gekommen. Heute allerdings hatte der Karton ihm als Vorwand gedient, um Sonja absagen zu können. So war es ihm leichter gefallen, den unangenehmen Anruf zu tätigen. Dennoch konnte es nichts schaden, sich den Inhalt noch einmal anzusehen. Er klappte den Karton auf und entnahm nacheinander die Beutel mit den beschlagnahmten Gegenständen. Alle stammten aus Antonia Bruckmanns Kinderzimmer. Ein MP3-Player, auf dem sie nichts außer der Musik gefunden hatten, die bei den Kindern in Antonias Alter gerade angesagt war. Der Inhalt des Papierkorbs, der aus zwei Taschentüchern, einer leeren Tintenpatrone, ein paar angefangenen Zeichnungen und Bonbonpapieren bestand. Eine Kladde, die zunächst vielversprechend nach einem Tagebuch ausgesehen hatte, dann aber nur zwei völlig belanglose Einträge aus der Zeit vor dem Umzug der Familie nach Düsseldorf enthielt. Ein Adressbuch mit den Anschriften von früheren Freundinnen aus Münster.
Chris setzte sich und betrachtete die Gegenstände. Mit einem Mal schossen ihm Tränen in die Augen. Ohne es zu wollen, musste er an Anna denken, daran, dass in ihrem Zimmer jetzt ähnliche Dinge herumliegen würden. Anna wäre inzwischen acht. Sie würde reiten oder Ballettunterricht nehmen, heimlich den Lippenstift ihrer Mutter ausprobieren und über ihre blöden Lehrer stöhnen. Wütend rieb Chris sich über das Gesicht, doch die Tränen flossen weiter. Mit einer Handbewegung fegte er die Beweisbeutel vom Tisch und ließ die Stirn auf die harte Holzplatte knallen. Der Schmerz beruhigte ihn. Einen Moment verharrte er so.
Als Chris seinen Kopf wieder anhob, fühlte er sich besser. Er leerte die Bierflasche und holte sich eine zweite aus dem Kühlschrank. Dann machte er sich daran, die Tüten vom Boden aufzusammeln. Was für eine Schnapsidee, die Sachen mit nach Hause zu nehmen! Er hatte gar nicht ernsthaft gehofft, etwas zu finden, das sie übersehen hatten, und er hatte auch keinen Vorwand für Sonja gebraucht; er hatte sich ein Stück Anna nach Hause holen wollen, ein Stück von der Anna, die es nicht gab, die es nie geben würde.
Behutsam legte er die Zeichnungen in den Plastikhüllen nebeneinander. Zwei zeigten Versuche, ein Pferd zu malen, sie waren mehrfach ausradiert und am Ende offenbar zusammengeknüllt worden. Ein Blatt war mit geometrischen Mustern bedeckt, Linien, Rechtecke und Quadrate. Neben einem Rechteck stand etwas und war wieder durchgestrichen worden. Chris kniff die Augen zusammen, um es zu entziffern: Wohnzimmer. Mit einem Mal begriff er. Das war kein Muster, sondern ein Grundriss, und zwar des Hauses der Familie Bruckmann. Das Erdgeschoss und der erste Stock waren nebeneinander gezeichnet, was man nicht gleich erkannte. Doch wenn man es wusste, waren die einzelnen Räume gut zu erkennen. Auch die Treppe war eingezeichnet, allerdings ohne Stufen, mehr als eine Art langgezogenes Rechteck.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete Chris die Zeichnung. Hatte Antonia sie vielleicht noch in Münster angefertigt, um sich mit dem neuen Heim vertraut zu machen? Oder hatte sie die Skizze für eine Freundin aus ihrer alten Heimatstadt gezeichnet, um ihr zu zeigen, wie sie jetzt wohnte?
Chris zuckte mit den Schultern. Es gab Dutzende mögliche Erklärungen, weshalb Antonia dieses Bild gezeichnet hatte. Den wahren Grund würde er wohl nie erfahren.
13
Sonntag, 9. Dezember
Kerstin Diercke klopfte sich den Schnee vom Mantel. Tommy hüpfte aufgeregt um sie herum, als würden sie gerade aufbrechen und hätten nicht einen einstündigen Spaziergang durch den Eller Forst hinter sich.
»Ruhig jetzt, Tommy«, ermahnte sie den Hund, bevor sie die Haustür aufschloss.
Tommy trottete brav hinter ihr ins Treppenhaus. Kerstin hoffte, dass Nora inzwischen wach war. Sie hatte Brötchen gekauft und wollte gemütlich mit ihrer Tochter frühstücken. Danach
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