Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Bedeutung beigemessen. Doch bei einem zehnjährigen Mädchen war ein solcher Befund ziemlich auffällig.
Maren seufzte. Jetzt musste sie nur noch entscheiden, ob sie Lydia Louis sofort anrufen oder bis Montag warten sollte.
Lydia startete den Motor und schaltete das Licht ein. Die Dunkelheit war unvermittelt gekommen, mitten am Nachmittag hatte sie das Gefühl, es wäre Nacht. Sie sehnte sich danach, heimzufahren und endlich einmal acht Stunden durchzuschlafen. Doch bis dahin lag noch ein steiniger Weg vor ihr. Sie musste diese mysteriöse Leonie Schwarzbach befragen, dem Krankenhaus einen Besuch abstatten und eine letzte Dienstbesprechung abhalten. Wenn das alles war. Vermutlich musste sie zudem einen Wutausbruch von Weynrath über sich ergehen lassen.
Über Funk forderte Lydia die genaue Adresse der Familie Schwarzbach an. Der Kollege teilte ihr mit, dass in dem Haus drei Personen gemeldet seien, Olaf und Melanie Schwarzbach mit ihrer Tochter Leonie. Lydia gab Gas. Sie war erleichtert, dass sie Salomon bei den Bruckmanns zurückgelassen hatte. Sosehr sie sich auch bemühte, sich nichts anmerken zu lassen, in seiner Gegenwart fühlte sie sich befangen. Es war, als belauerten sie sich ständig gegenseitig. Sie hoffte, dass diese Verlegenheit sich bald legte, denn der Fall erforderte ihre ganze Konzentration. Andererseits musste sie sich eingestehen, dass sie beide die Situation ziemlich gut meisterten. Immerhin war es noch keine vierundzwanzig Stunden her, dass sie übereinander hergefallen waren wie zwei ausgehungerte Raubtiere.
Inzwischen war Lydia auf der Ickerswarder Straße angekommen und hielt Ausschau nach der richtigen Hausnummer. Im Dunkeln ein schwieriges Unterfangen. Hinter ihr hupte jemand lautstark und preschte vorbei. Sie hielt ihren Mittelfinger gegen die Windschutzscheibe, doch es war unwahrscheinlich, dass der Kerl etwas davon mitbekam. Dabei hätte sie ihm gern ihren Dienstausweis unter die Nase gehalten und ihn nach allen Regeln der Kunst zusammengeschissen. Streng nach Vorschrift natürlich.
Beinahe wäre sie an dem Haus vorbeigefahren. Es war grau und auf eine altmodische Art spießig, mit einem Windfang aus transparentem, gewelltem Kunststoff und braun gerahmten Doppelglasfenstern. Zudem sah es ein wenig vernachlässigt aus. Während auf den Nachbargrundstücken die Wege frisch gekehrt und gestreut waren und der Weihnachtsschmuck in den Fenstern leuchtete, sammelte sich auf dem Anwesen der Familie Schwarzbach altes Laub in den Ecken, und einige der Steinplatten, die zum Eingang führten, waren gesprungen. Vertrocknete Grashalme ragten aus den Ritzen.
Lydia parkte in der Einfahrt. Noch bevor sie den Wagen abgeschlossen hatte, öffnete sich die Haustür und ein Mann trat heraus. Er war dunkelblond, kräftig gebaut und trug einen Schnauzbart.
»Wollen Sie zu uns?«, rief er.
»Herr Schwarzbach?«
»Ja?« Er klang argwöhnisch, als wäre er auf der Hut.
Sie ging näher und fummelte ihren Dienstausweis aus der Hosentasche. »Lydia Louis, Kripo Düsseldorf. Könnte ich kurz reinkommen?«
Trotz der schlechten Beleuchtung sah Lydia, wie der Mann blass wurde. »Worum geht es denn?«
»Es ist kalt. Vielleicht sollten wir das besser im Haus besprechen.«
Olaf Schwarzbach zögerte. »Meine Frau ist nicht ganz gesund.«
Noch ein Mann, der seine kranke Frau beschützt, schoss es Lydia durch den Kopf. »Es dauert nicht lang.«
»Also gut.« Er machte einen Schritt zur Seite und ließ sie eintreten. Im Inneren zögerte er einen Moment. »Da entlang«, sagte er und öffnete eine Tür.
Ein kleines Wohnzimmer befand sich dahinter, dessen Einrichtung ebenso wie das Haus selbst aus den fünfziger Jahren zu stammen schien. Die Sitzecke war dunkelgrün, Sofa und Sessel hatten geschwungene Armlehnen aus Holz. In der Ecke auf einer Anrichte stand ein Foto, zusammen mit einem Strauß Blumen und einer Kerze, die jedoch nicht brannte. Das ganze Ensemble wirkte wie ein kleiner Altar. Unwillkürlich trat Lydia näher. Die rechte Ecke des Fotos war mit einem schwarzen Band abgedeckt. Es zeigte ein blondes Mädchen im Vorschulalter.
»Unsere Tochter Svenja. Sie starb vor zwölf Jahren. Ein Tumor. Sie wäre heute siebzehn.«
»Das tut mir leid.« Lydia wusste, wie unangemessen ihre Worte waren, aber was sonst sagte man in einem solchen Fall? Ein Gedanke kam ihr: Wenn dieses Mädchen vor zwölf Jahren gestorben und Leonie im gleichen Alter wie Antonia und Nora war, dann hatte sie ihre große Schwester nie
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