Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
Mantels und machte sich auf den Weg.
Ein älteres Ehepaar kam ihm entgegen, Hand in Hand liefen sie an ihm vorbei, und er musste an Veronika denken. Der gestrige Abend war überraschend harmonisch verlaufen. Veronika war fröhlich aus der Galerie zurückgekommen, und sie waren zu dem kleinen Restaurant gefahren, das sie immer aufsuchten, wenn es etwas zu feiern gab. Halverstett hatte ihr von dem Gespräch auf der Treppe in der Altstadt erzählt, und sie hatten sich gemeinsam darüber amüsiert, wie unterschiedlich ihre jeweiligen Interessen waren, dass sie so etwas wie die beiden entgegengesetzten Enden des westlichen Wohlstands repräsentierten.
»Bist du froh, dass du der Sache nachgegangen bist?«, hatte Veronika wissen wollen.
»Ja. Ich hätte sonst ständig daran denken müssen, hätte gegrübelt, welches Detail ich übersehen habe.« Er hatte theatralisch das Gesicht verzogen. »Dabei muss ich jetzt wieder von vorn anfangen. Und wenn ich Pech habe, ist es der Anfang einer langen und beschwerlichen Sackgasse.«
Sie hatte mit der Gabel ein Salatblatt aufgespießt und ihn angelächelt. »Bisher bist du doch eher selten in einer Sackgasse gelandet, wenn ich mich recht entsinne.«
»Du musst es ja wissen. Schließlich kennt mich niemand besser als du.«
Auf dem Rückweg zum Auto hatte er ihre Hand ergriffen und für ein paar kostbare Momente war von dem Graben zwischen ihnen nichts zu spüren gewesen.
Halverstett hatte den Teich inzwischen umrundet und blieb vor den beiden Männern stehen.
»Tag«, sagte er.
Die beiden musterten ihn schweigend.
»Könnte ich euch wohl was fragen?«
Der jüngere spuckte auf den Boden. »Was will denn die Bullerei so früh am Sonntagmorgen von uns?«
Halverstett unterdrückte einen Seufzer. Es war ihm ein Rätsel, wie einige Bevölkerungsgruppen ihm seinen Beruf auf den ersten Blick ansahen. So als hätte er einen fetten Stempel auf der Stirn. Manchmal fragte er sich, ob es für Kleinganoven, Dealer und Stadtstreicher Kurse zu dem Thema gab. Falls ja, hatten sie eine hohe Erfolgsquote.
»Ich suche Ecki. Kennt ihr ihn?«
Der ältere Mann reagierte immer noch nicht, beobachtete mit glasigem Blick eine Amsel, die auf dem Boden vor ihm herumhüpfte.
Der jüngere zuckte mit den Schultern. »Sagt mir nichts.«
»Wirklich nicht? Angeblich beschuldigt er ständig die anderen, ihn bestohlen zu haben.«
Der junge Bursche sah ihn schief an. »Machen das nicht alle, die bei euch Bullen auflaufen?«
»Ihr kennt also keinen Ecki?«
»Mensch, biste schwerhörig, oder was? Nee. Nie gehört. Aber bestohlen ham se mich auch schon. Da könnt ich mich ja Ecki nennen, falls dir das hilft.«
»Danke«, sagte Halverstett und fragte sich im gleichen Moment, wofür er sich eigentlich bedankte. Er schlenderte weiter. Ein eisiger Wind war aufgekommen und blies ihm die Schneeflocken waagerecht ins Gesicht. Er dachte an sein gemütliches Wohnzimmer in Gruiten, an ein Glas Rotwein, ein gutes Buch. Er könnte den Kamin anzünden, dem Knistern lauschen und stundenlang in die Flammen starren. Die Vorstellung hatte etwas unwiderstehlich Verlockendes. Rasch verscheuchte er den Gedanken und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Wenn er diesen Ecki finden wollte, dann heute, am Sonntag. Wenn er im Dienst abgeschlossene Fälle wieder aufleben ließ, sprang Weynrath im Achteck. Das galt es auf jeden Fall zu vermeiden. Der Leiter des KK 11 war schon bei guter Laune schwer zu ertragen, seinen Zorn zu erregen war glatter Selbstmord.
14
Es war halb zehn, bis zur Dienstbesprechung um elf war noch jede Menge Zeit. Lydia beschloss, sich einen Kaffee zu holen. Sie betrat den Korridor des KK 11 und entdeckte zu ihrer Überraschung eine Frau, die auf sie zukam. Es war Kerstin Diercke, Noras Mutter.
Lydia versuchte, das Kribbeln in ihrem Magen zu ignorieren, die Hoffnung auf eine neue Spur. »Morgen, Frau Diercke.«
»Guten Morgen, Frau Louis. Ein Kollege von Ihnen war so freundlich, mich bis hierher zu bringen. Er war auch bereit, meine Aussage aufzunehmen, doch ich wollte lieber mit Ihnen sprechen. Das verstehen Sie sicher.«
Lydia verstand überhaupt nichts. Wenn das ein Gespräch von Frau zu Frau werden sollte, war sie die denkbar schlechteste Gesprächspartnerin. Da sollte die Diercke sich lieber an Salomon wenden. Lydia trat zurück ins Büro und bat die Besucherin mit einer Handbewegung herein. Wortlos deutete sie auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und setzte sich.
Aufmerksam sah sie Kerstin
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