Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
zwanzig Jahre älter geschätzt. »Wissen Sie, warum ich nach Ihnen gesucht habe?«
»Wegen des Märchenonkels.« Der Mann knetete wieder seine Mütze. »Warum hat dieser Idiot mir auch das Handy geklaut?«
»Fred Gärtner hat Ihnen ein Handy gestohlen?«
»Ich hatte es gefunden.«
Halverstett schob die Tastatur zur Seite. Eintippen konnte er die Aussage später. Jetzt musste er gut zuhören. »Bitte erzählen Sie der Reihe nach, was passiert ist, Herr Gruber.«
Der Mann zögerte, musterte seine schmutzigen Finger.
»Fangen Sie bei dem Handy an«, ermunterte ihn Halverstett. »Woher hatten Sie es?«
»Ich hab’s gefunden. Ehrlich. Es lag auf der Straße, unter ein paar Blättern, deshalb konnte man es nicht sofort sehen.«
»Wann war das?«
»Weiß ich nicht mehr. Vor ein paar Wochen. Ich hab’s nicht benutzt, wollte es verticken. Aber dann habe ich es doch behalten. Ich habe ein paar Fotos damit gemacht.«
»Und der Märchenonkel?«
»Der hat gesagt, ich muss es bei der Polizei abgeben. Der Spinner. Die Tussi, der es gehört, hat doch sicher längst ein neues.«
»Tussi? Woher wissen Sie, dass das Telefon einer Frau gehörte?«
»Na, es war rosa.«
»Und dann?«
»An dem Tag – na, Sie wissen schon, an dem Tag war das Handy plötzlich verschwunden. Ich hab den Mistkerl überall gesucht.« Gruber machte eine Armbewegung, um seine Worte zu unterstreichen, und setzte damit erneut einen Schwall Gestank frei.
Halverstett schluckte und versuchte flach zu atmen. »Und auf dem Burgplatz haben Sie ihn gefunden.«
»Ich habe ihm nur gesagt, dass er mir das Telefon wiedergeben soll. Der Schwachkopf hat was davon gefaselt, dass es mir nicht gehört. Da hab ich ihn an der Jacke gepackt und geschüttelt. Nur um ihm klarzumachen, dass es mir ernst ist. Und plötzlich ist er gestolpert. Ich konnte nichts dafür, ehrlich. Ich hab ihn kaum angefasst. Es war ein Unfall, das müssen Sie mir glauben, Herr Kommissar.«
»Und was haben Sie danach gemacht?«
»Ich hab Panik gekriegt. Wer glaubt denn einem Penner wie mir? Also hab ich mich verdrückt.«
»Und das Handy?«
Eckhard Gruber senkte den Kopf. »Das habe ich vorher aus seiner Jacke genommen. Da waren ja meine Fingerabdrücke drauf. Ich wollte nichts riskieren.«
»Ich danke Ihnen, dass Sie zu mir gekommen sind, Herr Gruber«, sagte Halverstett. »Ich werde jetzt aufschreiben, was Sie ausgesagt haben, dann lese ich es Ihnen noch einmal vor, damit Sie sagen können, ob es so stimmt.« Er zog die Tastatur wieder zu sich heran. Sein Instinkt hatte wieder einmal richtig gelegen. Doch das Gefühl der Befriedigung, das er erwartet hatte, blieb aus. Dann fiel ihm etwas ein. »Das Handy, haben Sie das noch?«
Wortlos fischte Gruber ein rosa Mobiltelefon aus seiner Jacke und legte es auf den Schreibtisch. »Ich hab nur ein paar Fotos damit gemacht. Dann war der Akku leer. Es sind auch noch ein paar andere Bilder drauf, von der Tussi. Kinderbilder. Vielleicht hat sie ihre Gören geknipst. Meinen Sie, ich krieg vielleicht Finderlohn?«
Lydia trat ans Fenster, hinter dem die Schatten von Minute zu Minute länger wurden. Die Dämmerung senkte sich über die Stadt, obwohl der Tag erst vor wenigen Stunden begonnen hatte. Dunkelheit, der Fluch des Winters. Lydia wandte sich ab und schaltete die Schreibtischlampe an. Sie war allein in ihrem Büro. Salomon war hinunter in die Kantine gegangen, doch sie hatte keinen Appetit.
Ihr Blick fiel auf den Drucker, ein Lämpchen blinkte. Das Papier war aufgebraucht. Lydia beugte sich vor, zog die untere Schreibtischschublade auf und erstarrte. Neben dem Paket Kopierpapier lag eine volle Flasche Johnnie Walker Black Label. Ihre Marke.
Ein plötzlicher Schwindel überkam sie, und sie musste sich an der Schreibtischplatte festkrallen. Ihr Atem ging stoßweise. Verdammt! Hatte sie die Flasche dort hineingelegt? Oder hatte ihr jemand einen üblen Streich gespielt? Sie wusste es nicht, ihr Gedächtnis war ein schwarzes Loch. Wenn das ein Scherz sein sollte, dann war er völlig daneben. Eine Flasche Whisky in der Schreibtischschublade konnte sehr unangenehme Folgen haben. Scheiße! Wenn sie sich doch nur sicher wäre, dass sie es nicht selbst war!
Lydia knallte die Schublade zu. Nein, sie hatte die Flasche nicht dort deponiert, sonst würde sie sich daran erinnern. Und sie wusste nur noch, dass sie darüber nachgedacht, dass sie mit dem Gedanken gespielt hatte. Sie rieb sich die Schläfen. Salomons Tabletten hatten gut gewirkt, doch
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