Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
jetzt ging das Pochen wieder los.
Das Telefon schrillte. Lydia ließ es achtmal klingeln, bevor sie sich meldete. Wenn jemand so hartnäckig war, war es womöglich wichtig. Das Krankenhaus. Der Arzt nannte seinen Namen, doch Lydia verstand ihn nicht. Dafür verstand sie umso besser, was er sagte.
Sie legte auf, ohne etwas zu erwidern, ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und schloss die Augen. Die Flasche in der Schublade schien nach ihr zu rufen, leise, lockend. Ihr Schädel dröhnte wie ein Düsenflugzeug. Lydia stöhnte. Alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben, sogar ihr eigener Körper.
Und dabei musste sie gerade jetzt ihre Sinne beisammenhaben: Walter Palmerson war soeben verstorben.
17
Es war bereits stockdunkel, als Thomas Hackmann das Institut für Rechtsmedizin betrat. Er marschierte den vertrauten Korridor entlang und die Treppe hinunter, bis er den Sektionssaal erreichte. Maren Lahnstein und ein Kollege waren gerade mit einer Wasserleiche beschäftigt, und der Gestank war unerträglich.
»Auf ein Wort, Frau Doktor Lahnstein«, rief Hackmann ihr von der Tür zu.
»Jetzt nicht«, murmelte sie durch ihren Mundschutz.
»Es dauert nicht lang. Aber ich muss wissen, wo ich mit den Ermittlungen ansetzen soll.«
Maren Lahnstein schaltete das Aufnahmegerät aus, das über dem Obduktionstisch hing, und drehte sich zu ihm um. »Sie sehen doch, dass wir zu tun haben. Worum geht es denn?«
»Der angebliche Suizid. Eine Melanie Schwarzbach.«
Maren Lahnstein sah ihren Kollegen an und zog den Mundschutz herunter.
»Fünf Minuten«, sagte sie. »Ich bin sofort zurück.«
Der Mann murmelte etwas Unverständliches und drehte sich zu einem Tisch um, auf dem verschiedene Spurenträger lagen.
Die Gerichtsmedizinerin kam auf Hackmann zu. »Ich habe bisher nur einen kurzen Blick auf die Leiche geworfen. Ich kann Ihnen noch nichts sagen.«
»Haben Sie den Arm gesehen? Die Hämatome?«
»Ja, habe ich.« Maren Lahnstein atmete einmal tief ein und aus. »Hämatome an beiden Armen, an der Hüfte und am Knie. Außerdem eine Schürfwunde am Kopf. Alle Verletzungen waren frisch. Womöglich ging ihrem Tod ein Kampf voraus. Haben Sie denn ihren Ehemann schon befragt? Hat er irgendeine Erklärung geliefert?«
»Sie hatten Streit, und er hat sie festgehalten, sagt er. Mehr nicht. Sie ist daraufhin angeblich wütend die Treppe hochgelaufen, und er dachte, sie läge schmollend im Bett.«
Maren Lahnstein gab einen zischenden Laut von sich. »Da hat er sie aber sehr gut festgehalten.«
»Gibt es sonst noch Hinweise darauf, dass die Frau die Tabletten nicht freiwillig genommen hat?«
»Im Augenblick nicht. Die Autopsie ist für morgen früh angesetzt. Danach wissen wir mehr.«
»Gut, danke.« Hackmann blickte ihr hinterher, wie sie zurück an den Obduktionstisch trat. Sie hatte eine perfekte Figur, und ihr rotbraunes Haar schimmerte verheißungsvoll. Doch er wusste, dass der äußere Eindruck täuschte. Maren Lahnstein war mindestens ebenso spröde wie Lydia Louis. Alle Frauen, mit denen er beruflich zu tun hatte, waren entweder attraktive Kotzbrocken wie die Louis und die Lahnstein oder hässliche, weinerliche Ziegen wie Ruth Wiechert. Vermutlich hatte er den falschen Job.
Draußen empfing ihn der dunkle Winternachmittag. Trotz der mageren Informationen, die er aus der Rechtsmedizin mitbrachte, war Hackmann bester Laune. Der Tag, der so mies begonnen hatte, hatte eine sensationelle Wendung genommen. Er sollte eine kleine Moko zusammenstellen, um den Tod von Melanie Schwarzbach zu untersuchen. Weynrath hatte ihm freie Hand gelassen. Und da die »Moko Toni« sich gerade aufgelöst hatte, standen ihm fast alle Mitarbeiter des KK 11 zur Verfügung. Er schlenderte die Stufen hinunter und stellte sich vor, wie er die Louis herumkommandierte. Er würde ihr die langweiligsten Aufgaben übertragen, oder noch besser, sie zu seiner persönlichen Assistentin machen. Bei der Vorstellung, wie sie mit Block und Kuli vor ihm saß und sich seine Anordnungen notierte, kribbelte es in seinen Lenden.
Leider wurde so schnell nichts daraus. Noch stand Lydia Louis im Dienstgrad über ihm. Doch das würde sich ändern. Es war nur eine Frage der Zeit.
Lydia hatte sich noch immer nicht von ihrem Schreck erholt, als Salomon ins Büro gestürzt kam.
Er war außer Atem. »Hast du es schon gehört?«
»Ja, Palmerson ist tot. Es kann sein, dass wir den Fall nicht richtig abschließen können. Es ist zum Kotzen.«
Er blickte sie
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