Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
an die Regeln gehalten, war anständig geblieben, hatte sich nie etwas zu Schulden kommen lassen. Trotzdem hatte das Leben ihn verhöhnt, ihm alles genommen, was ihm etwas bedeutete. Es wurde Zeit, dass er den Spieß umdrehte und endlich einmal an sich dachte. Scheiß auf die Firma, auf die Mitarbeiter, auf seine Verantwortung. Scheiß auf die Hypothek, auf die Rechnungen, auf das undichte Dach. Er würde einfach auf Nimmerwiedersehen verschwinden, sollten sich andere darum kümmern. Es hatte nichts mehr mit ihm zu tun, es scherte ihn nicht mehr. Nichts war mehr wichtig. Nichts außer Leonie.
Während er auf den Notarzt gewartet hatte, hatte er das Bild in der Zeitung entdeckt. Das Bild neben der Schlagzeile: Ist das der Mörder der kleinen Antonia? Das riesige grobkörnige Foto eines Mannes, der sich beide Hände vor das Gesicht hielt, hatte fast die Hälfte der Titelseite eingenommen. In das Foto war ein kleineres montiert worden, das des blonden Mädchens, das der Mann angeblich getötet hatte.
Olaf setzte den Blinker und nahm die Ausfahrt. Hier musste er aufmerksamer fahren, der Feierabendverkehr verstopfte die Landstraße. Er hätte es wissen müssen, oder zumindest ahnen. Schon damals in der Klinik hatte er dieses merkwürdige Gefühl gehabt, als er das andere Elternpaar mit ihrem Baby auf dem Arm gesehen hatte. Doch er hatte sich eingeredet, dass er sich täuschte. Schließlich sahen alle Neugeborenen gleich aus. Es war nicht wichtig gewesen. Es zählten nur Melanie, seine Frau, und Leonie, das kleine Mädchen, das sie retten, von ihrem Kummer erlösen sollte.
Er hätte wissen müssen, dass es nicht funktionierte. Dass man ein Kind nicht durch ein anderes ersetzen konnte. Nun war Leonie alles, was ihm geblieben war. Olaf drosselte das Tempo, um die Straße nicht zu verpassen, in die er einbiegen musste. Obwohl er nur einmal hier gewesen war, fand er den Weg auf Anhieb. Erst als er vor dem Haus hielt und den Motor abstellte, merkte er, dass seine Hände zitterten. Er hatte das Lenkrad so fest umklammert, dass er sich völlig verkrampft hatte.
Vorsichtig blickte Olaf Schwarzbach sich um. Kein Polizeiwagen, auch nicht der Toyota dieser neugierigen Kommissarin. Erleichtert stieß er den Atem aus. Er war fast am Ziel. Noch ein paar Minuten, dann war Leonie in Sicherheit. Noch zwei Stunden, und sie waren über die Grenze. Was danach geschah, darüber würde er nachdenken, wenn es so weit war.
18
Lydia wappnete sich innerlich, bevor sie sich den Ordner schnappte und mit Salomon das Büro verließ, um die Besprechung zu leiten. Hackmann würde ihr das Leben zur Hölle machen, Weynrath ebenfalls, wenn er erfuhr, dass Palmerson tot war, und ob sich bei den weiteren Ermittlungen tatsächlich eine neue Spur ergab, stand in den Sternen.
Salomon hielt ihr die Tür auf.
»Zeig’s ihnen«, raunte er, bevor er sich neben ihr niederließ.
Widerwillig musste sie grinsen, eine plötzliche Gelassenheit ergriff von ihr Besitz. Sie ließ den Ordner geräuschvoll auf den Tisch knallen, sodass augenblicklich alle Gespräche verstummten.
»Liebe Leute, es gibt viel zu tun, also lasst uns anfangen.« Sie blickte in die Runde. Alle waren da, auch Hackmann, der ihr mit verschränkten Armen und versteinertem Gesicht gegenübersaß. »Zuerst möchte ich das neue Mitglied der Moko begrüßen, Thomas Hackmann. Schön, dass du dabei bist.«
Hackmann verzog keine Miene, die anderen trommelten kurz auf die Tischplatte.
»Es gibt einige neue Wendungen, wie ihr vielleicht schon wisst«, fuhr Lydia fort, als das Trommeln abgeebbt war. »Ich fasse noch einmal kurz zusammen. Das Wichtigste zuerst: Unser Hauptverdächtiger Walter Palmerson ist vorhin im Krankenhaus verstorben.«
Gemurmel erhob sich. Die Nachricht hatte sich also noch nicht herumgesprochen. Umso besser. Vielleicht gelang es ihr vorzutäuschen, dass der Anruf aus dem Krankenhaus erst nach dem Gespräch mit Weynrath eingegangen war. Das würde ihr einen Wutausbruch ersparen.
Schmiedel sprang auf, sein Stuhl krachte auf den Boden.
»So ein Mist«, sagte er. »So sehr haben wir ihm doch gar nicht zugesetzt.«
Meier hob den Stuhl auf und zog Schmiedel zurück auf seinen Platz. »Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Dass der Typ ein schwaches Herz hatte, ist nicht deine Schuld. Und dass er ein perverser Mistkerl war, auch nicht.«
»Na, na!«, rief Köster. »Ein bisschen mehr Respekt, bitte. Der Mann ist tot.«
»Ach, und deshalb ist er jetzt plötzlich ein netter
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