Die weißen Schatten der Nacht: Kriminalroman
sterben. Die Sexualstraftat war ja ohnehin nur vorgetäuscht. Es sollte von vornherein etwas vertuscht werden.«
»Und vielleicht hat Melanie Schwarzbach das Schweigen nicht länger ausgehalten«, sagte Köster. »Womöglich wollte sie reden und wurde deshalb ebenfalls umgebracht.«
»Wenn sie es nicht mehr ausgehalten hat, wäre das aber auch ein Motiv für Suizid.« Meier fuhr sich durch das Haar.
»Wir dürfen die anderen Spuren nicht vergessen«, sagte Salomon. »Was ist mit den Krankheiten der Mädchen? Mit dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom? Sind wir da schon weiter?«
»Also, ein paar Dinge hatte ich heute Morgen schon dazu gesagt, Chris, als du nicht da warst.« Ingo Wirtz nahm einen Notizblock in die Hand. »Doch ich fasse es noch mal kurz zusammen. Ist vielleicht im Licht der neuen Fakten für alle interessant.«
Er schaute fragend zu Lydia, die ihm zunickte.
»Zuerst zu dem Krankheitsbild«, fuhr er fort. »Das sogenannte Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, englisch Munchhausen syndrome by proxy, kurz MSBP, ist eine Form der Misshandlung, bei der die Erkrankung einer dritten Person, meistens des eigenen Kindes, entweder vorgetäuscht, dramatisiert oder aktiv herbeigeführt wird. Ziel ist es, eine Behandlung zu erzwingen. Deshalb sind häufige Arztbesuche mit dem Kind in diesen Fällen die Regel. Es sind zumeist Mütter, die an der Störung leiden, angeblich kommen sie auffällig oft aus medizinischen Berufen. Auch Melanie Schwarzbach war übrigens gelernte Krankenschwester. Es gibt keine sichere Diagnose. Zum ersten Mal beschrieben hat die Krankheit ein britischer Arzt namens Roy Meadow. Seine Hypothesen sind jedoch sehr umstritten, viele Prozesse, bei denen er Gutachter war, wurden vor einigen Jahren neu aufgerollt. Es gibt eine Reihe von Experten, die die Existenz dieser Störung infrage stellen. Sie sagen, dass MSBP eine Erfindung von Roy Meadow ist, für die es keine wissenschaftlichen Belege gibt. In Deutschland ist MSBP nicht als psychische Störung anerkannt, allerdings nicht weil die Existenz der Krankheit angezweifelt wird, sondern weil Täter, die Kinder misshandeln, nicht ungeschoren davonkommen sollen.«
Wirtz machte eine Pause und blickte in die Runde, dann sah er Ruth Wiechert an. »Möchtest du was zu den Kinderärzten sagen?«
Sie nickte. »Heute Vormittag haben wir mit Leonies Arzt gesprochen. Er hat seit langem den Verdacht, dass in der Familie etwas nicht stimmt. Leonie sei häufig krank und leide an für das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom typischen Störungen wie Magenbeschwerden und Kopfschmerzen, für die keine organische Ursache zu finden sei. Er hat auch schon diskret den Vater darauf angesprochen, aber der wollte nichts weiter unternehmen, da es in diesem Bereich zu viele falsche Anschuldigungen und Fehldiagnosen gebe.« Ruth Wiechert verzog das Gesicht. »Eine ziemlich miese Ausrede, wenn ihr mich fragt.« Sie blickte schuldbewusst zu Lydia und sprach rasch weiter. »Die Kinderärztin von Antonia konnte uns nicht viel sagen. Sie hat das Mädchen nur einmal gesehen, da hatte sie eine normale Erkältung. Den Arzt in Münster haben wir leider noch nicht ausfindig gemacht. Außerdem müssen wir bei den Krankenkassen noch wegen eventueller Krankenhausaufenthalte nachfragen, von denen die Hausärzte vielleicht gar nichts wissen.«
»Wenn die beiden Mädchen tatsächlich miteinander verwandt sind«, sagte Schmiedel, »dann könnten sie doch die gleiche Krankheit haben. Irgendein sehr seltenes erbliches Leiden, auf das noch keiner gekommen ist. Habt ihr darüber mal nachgedacht?«
»Bisher konnten wir darüber ja wohl nicht nachdenken«, schnauzte Wiechert ihn an, die sich offenbar persönlich angegriffen fühlte. »Schließlich wussten wir bis eben nicht, dass sie sich so ähnlich sehen.«
»Ich meinte das nicht als Vorwurf«, sagte Schmiedel schnell. »Aber es könnte doch sein, oder?« Er blickte fragend in Lydias Richtung.
»Und was hat das mit Antonias Tod zu tun?«, fragte Köster skeptisch.
»Keine Ahnung«, antwortete Schmiedel. »Womöglich gar nichts. Das finden wir raus, wenn wir wissen, um welche rätselhafte Krankheit es sich handelt.«
Lydia hatte mitgeschrieben, jetzt hob sie den Blick und sah Wirtz und Wiechert an. »Im Augenblick halte ich fast alles für möglich. Deshalb möchte ich, dass ihr in diese Richtung weiterermittelt. Sprecht mit der Krankenkasse und mit den Ärzten. Vielleicht auch mit Maren Lahnstein. Könnte sein, dass sie eine Idee
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