Die Welle
Kugelschreiber und dachte über die Sorgen ihrer Mutter nach. Man konnte das alles wirklich zu sehr aufblähen. Es war doch nichts weiter als ein Spiel! Oder?
Ben Ross saß beim Kaffee im Lehrerzimmer, als ein Kollege kam und ihm sagte, Direktor Owens wünsche ihn in seinem Büro zu sprechen. Ross fühlte sich ein wenig unsicher. War irgendetwas nicht in Ordnung? Wenn Owens ihn sprechen wollte, dann musste es mit der Welle zu tun haben.
Ross trat auf den Flur und ging auf das Büro des Direktors zu. Unterwegs blieben mehr als ein Dutzend Schüler stehen und grüßten mit dem Gruß der Welle. Ross grüßte zurück und ging schnell weiter. Was hatte Owens ihm zu sagen? In gewisser Hinsicht würde es eine Erleichterung bedeuten, dachte Ben, wenn Owens ihm mitteilte, es habe Klagen gegeben, und er solle das Experiment gefälligst abbrechen. Er hatte wahrhaftig nicht erwartet, dass die Welle sich so sehr ausbreiten würde. Die Nachricht, dass jetzt auch Schüler anderer Klassen und sogar anderer Klassenstufen daran beteiligt waren, hatte ihn verwundert. So hatte er sich das alles nicht vorgestellt.
Und doch musste er dabei auch an die positive Seite des Experiments denken, an Außenseiter wie diesen Robert Billings: Zum ersten Mal in seinem Leben war Robert ein Gleicher unter Gleichen, ein Mitglied, war er Teil einer Gruppe. Niemand machte sich mehr über ihn lustig, niemand machte ihm das Leben schwer. Und die Veränderung, die mit Robert vor sich gegangen war, war in der Tat bemerkenswert.Nicht nur, dass sich seine äußere Erscheinung verbessert hatte. Er leistete jetzt auch eigene Beiträge. Zum ersten Mal war er ein aktives Mitglied seiner Klasse. Und das galt nicht nur für den Geschichtskurs. Christy sagte, in der Musik sei es ebenfalls deutlich zu spüren. Robert kam ihnen allen vor wie ein neuer Mensch. Wenn man die Welle jetzt einfach enden ließ, stieß man Robert möglicherweise in die Rolle des Klassensonderlings zurück und nahm ihm damit seine einzige Chance.
Und würde das Ende der Welle nicht auch die anderen Schüler enttäuschen, die daran teilnahmen? Ben war sich nicht sicher. Man nahm ihnen jedenfalls damit die Chance, genau zu erkennen, wohin das Experiment schließlich führte. Und er selbst verlor die Möglichkeit, seine Schüler bis zu diesem Punkt zu führen. Plötzlich blieb Ben stehen. Moment mal! Seit wann führte er sie denn irgendwohin? Es handelte sich doch einfach um ein Experiment im Unterricht, nicht wahr? Er bot seinen Schülern die Gelegenheit, ein Gespür dafür zu gewinnen, wie das Leben in Nazi-Deutschland gewesen sein mochte. Ross lächelte über sich selbst. Man soll sich nicht zu sehr mitreißen lassen, dachte er, und ging weiter den Flur entlang.
Die Tür zum Zimmer des Direktors stand offen, und als Owens Ben Ross im Vorzimmer sah, winkte er ihn zu sich. Ben war ein wenig verwirrt. Auf dem Weg hierher hatte er sich eingeredet, Direktor Owens werde ihm gründlich den Kopf waschen wollen, doch der alte Mann schien bester Laune zu sein. Direktor Owens war ein wahrer Riese, an die zwei Meter groß. Sein Kopf war fast völlig kahl, abgesehen von einem Haarbüschel über jedem Ohr. Sonst war an ihm nur noch die Pfeife bemerkenswert, die er immer zwischen den Lippen trug. Er hatte eine tiefe Stimme und damit konnte er, wenn er zornig war, selbst den aufrührerischsten »Rebellen« in ein Lamm verwandeln. Aber heute sah es ganz so aus, als hätte Ben nichts zu fürchten.
Der Direktor saß hinter seinem Schreibtisch und hatte die schwarzen Schuhe auf die Tischkante gelegt. Er blinzelte Ben entgegen. »Der Anzug steht Ihnen gut«, sagte er. Owens hatte man in der Schule nie anders als in einem dreiteiligen Anzug gesehen; selbst dann nicht, wenn er am Samstagnachmittag zum Football kam.
»Danke, Sir ! «, antwortete Ben ein wenig nervös.
Direktor Owens lächelte. »Ich erinnere mich gar nicht, an Ihnen vorher schon einmal einen Anzug gesehen zu haben.« »Für mich ist es auch neu«, gab Ben zu.
Eine der Augenbrauen des Direktors hob sich. »Hat das vielleicht auch etwas mit der Welle zu tun?«, fragte er.
Ben musste sich räuspern. »Ja ... ja, in gewisser Weise schon.«
Direktor Owens lächelte. »Nun erklären Sie mir doch einmal, Ben, was es mit dieser Welle auf sich hat«, sagte er.
»Sie haben ja die ganze Schule in Unruhe versetzt.« »Ich hoffe, dass es eine gute Unruhe ist.«
Der Direktor rieb sich das Kinn. »Nach allem, was ich bisher gehört habe, scheint es
Weitere Kostenlose Bücher