Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
nicht. Die Vorstellung parfümierter Paläste, gepuderter Perücken und uniformierter Lackaffen erzeugte bei ihr dieselbe Übelkeit, wie sie wohl so manchen Spanier, Engländer oder Holländer beim Anblick dieses Mörderpfühls überkommen hätte.
Port Nassau war ihre Hauptstadt, und Kenndrick ihr Kaiser.
Das sagte sie auch zu dem Posten, der am Eingang der Fetten Henne stand und ihr den Weg versperrte. Der Mann, ein besonders schmutziges und unansehnliches Exemplar, stocherte mit einer Messerspitze zwischen seinen Zähnen; er nahm die Klinge nicht einmal heraus, um den Kopf zu schütteln. Erst als ihm klar wurde, dass Jolly nicht lockerließ, steckte er den Dolch zurück in den Gürtel und beugte sich vor.
»Ich kenn dich, Mädchen.« Sein Atem roch nach abgestandenem Bier und Essensresten. »Du bist die Kleine von der Mageren Maddy. Bist ein Großmaul, ’ne Wichtigtuerin und ’ne Nervensäge, und all das haste dir nur erlauben können, weil der große Bannon seine Hand über dich gehalten hat.« Sein Grinsen entblößte Zähne in der Farbe geronnener Milch. »Aber die Maddy is’ abgesoffen und Bannon vor die Hunde gegangen. Was mich angeht, biste nur ’ne vorlaute Göre, die längst eins auf den Hosenboden verdient hat. Is’ meine Meinung, weißte? Hey, in ein paar Jahren, wenn du’s überlebst, könnte ein ganz ansehnliches Weibsbild aus dir werden. Dann kannste ja wiederkommen und noch mal Tach sagen. Aber bis dahin - verzieh dich!«
Mit selbstsicherem Lächeln richtete er sich wieder auf und gähnte lautstark; dabei schloss er für einen Moment die Augen.
Als er sie wieder öffnete, lag sein Dolch in Jollys Hand und deutete auf eine Stelle eine Handbreit unter seiner Gürtelschnalle.
»Kenndrick«, sagte sie verbissen. »Sofort!«
»Jolly, lass das«, flüsterte Munk, der direkt hinter ihr stand. »Du hetzt uns noch die ganze Meute auf den Hals.«
»Wolltest du nun Piraten sehen oder nicht?«
»Nicht so viele .«
»Das hättest du dir vorher überlegen müssen.«
Munk warf Jolly einen flehenden Blick zu. Sie waren zu zweit hergekommen.
Der Geisterhändler hatte sie, gleich nachdem sie von Bord gegangen waren, allein gelassen - ohne viele Worte. Doch es war kein Abschied gewesen, und Jolly hatte das sichere Gefühl, dass der Händler nicht vorhatte, sie auch nur für kurze Zeit aus den Augen zu lassen.
Der Pirat starrte auf Jollys Dolchspitze, die seinen Hosenlatz eindellte. Ein nervöses Grinsen flackerte über seine narbigen Züge.
»Is’ nicht dein Ernst, Mädchen. Bist doch nicht so verrückt, wie alle behaupten, oder?«
»Und du nicht so dumm, oder?«
Er blinzelte sie an, als könnte er noch immer nicht begreifen, was gerade mit ihm geschah: Ein Mädchen von gerade mal vierzehn Jahren hatte ihn ausgetrickst und drohte ihm mit seinem eigenen Dolch. Jolly sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Falls irgendjemand zusah, würde sich diese Peinlichkeit in Windeseile in ganz Port Nassau herumsprechen.
»Was soll ich tun?«, fragte er widerwillig. »Ich kann ja reingehen und fragen, ob Kenndrick zu dir rauskommt.«
Jolly versuchte, Munk zu ignorieren, der nervös von einem Fuß auf den anderen trat. »Verbringt Kenndrick hier im Gasthof die Nacht?«
»Klar doch. Hat alle Zimmer gemietet, das ganze Bier und den Rum gekauft und alle Mädchen bezahlt. Ist so was wie sein Palast, die Fette Henne.«
»Und du bist so was wie sein Leibwächter?«
Der Pirat grinste stolz. »Sicher. Ich und noch ’n paar andere. Einer an jeder Tür, vorne und hinten. Aber iss’ ja klar, wer der Wichtigste is’, oder?« Er lachte schäbig. »Der am Eingang, natürlich.«
Himmel, wie konnte Kenndrick sich nur auf solche Dummköpfe verlassen? Er schien sich hier in Port Nassau sehr sicher zu fühlen - kein Wunder, hatte er doch alle, die sich offen zu seinem ermordeten Vorgänger Scarab bekannt hatten, getötet oder von der Insel gejagt.
»Gut«, sagte Jolly und übte ganz leichten Druck auf die Klinge aus, »wenn ich dich da reingehen lasse, um Kenndrick zu melden, dass ich ihn sprechen will, gibst du mir dann dein Wort, dass du keine faulen Tricks versuchst? Du kommst wieder raus, und zwar ohne Pistole oder Säbel oder sonst was.«
»Ehrenwort, klar doch!« Der Pirat nickte und verkniff sich merklich ein Grinsen. »Ist ’ne gute Idee, so wie du’s sagst. ’ne sehr gute Idee. Bist ’n schlaues Kind. Kannst dich auf mich verlassen, bestimmt.«
Munks Stimme flatterte. »Du traust diesem Kerl doch nicht
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