Die Wellenläufer 01 - Die Wellenläufer
Richtige zu sein.
Sie blieben an Deck und rollten sich auf den Planken zusammen, um zu schlafen. Keiner verspürte den Wunsch, die Innenräume des ehemaligen Sklavenschiffs kennen zu lernen. Bereits hier draußen war die Atmosphäre beklemmend und unheimlich; unter Deck würden ihnen die Enge und die Finsternis ganz sicher den Atem rauben.
Jolly schlief irgendwann ein, wenngleich es ihr am Morgen vorkam, als hätte sie kaum Ruhe gefunden in dieser Nacht. Sie fühlte sich gerädert, als hätten Albträume sie aus dem Schlaf gerissen, auch wenn sie sich an keinen davon erinnern konnte. Trotzdem, das Gefühl blieb: Dinge hatten sie im Schlaf heimgesucht, die sie nicht sehen, über die sie nichts wissen wollte.
Fast so wie in der Wirklichkeit. Sie hatte nicht darum gebeten, aus ihrer vertrauten Umgebung in diesen Albtraum gerissen zu werden.
»Die Quappen haben an Bedeutung gewonnen«, hörte sie die Stimme des Geisterhändlers wieder und wieder sagen. Und jedes Mal erschien ihr der Satz unheilverheißender.
Das Morgenlicht drang nur ganz allmählich durch den Nebelring rund um das Geisterschiff. Die Schatten verloren erst an Tiefe, als in der Öffnung hoch über ihnen bereits der blaue Karibikhimmel erstrahlte. Wie schon die Sterne in der vergangenen Nacht wirkte nun auch die Sonne weiter weg als gewöhnlich. Die Außenwelt schien in Ungewisse Ferne entrückt zu sein, was Teil der Natur des Geisterschiffs sein mochte, vielleicht aber auch eine Folge der Ereignisse.
Trauer lag wie ein ganz eigener Nebel über dem Schiff, und Jolly fühlte sich außer Stande, irgendetwas dagegen zu tun.
Nach dem Aufstehen ließ sie Munk in Ruhe, überlegte, ob sie vielleicht doch noch allein einen Erkundungsgang durch das Schiff machen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Stattdessen kletterte sie vorne auf den Bugspriet, ließ sich rittlings darauf nieder wie auf einem Pferd und erinnerte sich wehmütig, wie oft sie das Gleiche an Bord der Mageren Maddy getan hatte, die nun irgendwo in den Tiefen der See auf Grund lag.
Gelegentlich schaute sie über die Schulter und sah Munk in einiger Entfernung mit gerunzelter Stirn auf Deck knien. Er hatte all seine Muscheln vor sich ausgebreitet und formte daraus eine Vielzahl von Mustern. Einige Male ließ er über den leeren Gehäusen eine leuchtende Perle entstehen, schloss sie aber sofort wieder in eine der Muscheln ein. Was immer er auch bewirken wollte -vielleicht stärkeren Wind für die Segel, vielleicht etwas, das ihm die Trauer nahm -, er schien keinen Erfolg damit zu haben.
Der Geisterhändler ließ sich erst am frühen Nachmittag wieder blicken. Er legte eine Hand an den Großmast und schloss die Augen. Nach einer Weile wurde Jolly klar, dass er auf diese Weise Zwiesprache mit dem Geist im Ausguck hielt.
Er bewegte die Lippen, doch erst ein kühler Windstoß trieb die Worte bis zu Jollys Ohren.
»Wir sind da«, sagte er. »Die Insel vor uns ist New Providence.«
Sie blickte angestrengt nach vorn, sah aber nichts außer wattigem Nebel. Manchmal kam es ihr vor, als formten sich die Schwaden zu faserigen Gestalten, zu Gesichtern, ganzen Szenen.
New Providence, dachte sie erleichtert.
Fast sowas wie ein Zuhause.
Die Piratenstadt
Der Piratenkaiser weigerte sich, Jolly zu empfangen. Das Gasthaus, in dem er Hof hielt, verdiente kaum diese Bezeichnung.
Tavernen und Schänken reihten sich in den engen Gassen aneinander, aber nur zwei oder drei gaben Anlass zu der Hoffnung, das Essen könne genießbar, der Rum nicht gestreckt und die Betten frei von Ungeziefer sein.
Die Fette Henne lag im Zentrum dessen, was sich großspurig Stadt nannte, obgleich der zivilisierte Klang des Wortes an einem Ort wie diesem trog. Nirgends konnte man so vielen Halunken, Mördern, Falschspielern und Größenwahnsinnigen begegnen wie auf New Providence. Und hier in Port Nassau, dem einzigen ausgebauten Hafen der Insel, befand sich das Herz dieses Piratenmolochs, die Grube, in der so viel Abschaum aufeinander traf, dass sich eine weiße Weste schon beim Näherkommen schwarz färbte. Jolly fühlte sich pudelwohl.
Sie war auf hoher See aufgewachsen, aber es waren Orte wie dieser, in denen sie dann und wann mit Bannon an Land gegangen war. Zivilisation, das war für sie der Anblick stinkender Gassen, überfüllter Schänken und das gelegentliche Spekatakel eines Faustkampfs, einer Messerstecherei oder einer durchschnittenen Kehle im Halblicht heruntergebrannter Laternen.
Etwas anderes kannte sie
Weitere Kostenlose Bücher