Die Wellenläufer 02 - Die Muschelmagier
den Wunsch, seine Fähigkeiten zu perfektionieren.
Griffin dagegen… nun, er war eben Griffin. Ein Pirat und Betrüger und Großmaul. Manchmal, jedenfalls. Und von Zeit zu Zeit war er auch so wie heute. Er selbst, und doch irgendwie ganz anders. Als wäre alles, was sie schon früher insgeheim an ihm gemocht hatte, mit einem Mal viel deutlicher geworden. Hatte er sich verändert? Oder nahm sie ihn einfach nur anders wahr?
»Die ganze Stadt redet über euch«, ergriff er nach einer Pause das Wort. »Von den beiden Rettern und Erlösern und .«
»Bitte, Griffin, hör auf.«
»Mit der Nadel?«
»Mit diesem Gerede von Rettern und Erlösern. Das sind wir ganz bestimmt nicht.«
»Munk jedenfalls macht den Eindruck, als wäre er diesem Gedanken nicht ganz abgeneigt.«
»Er gefällt sich in seiner Rolle. Und er genießt die Aufmerksamkeit. Aber das musst du verstehen. Vierzehn Jahre lang ist er außer seinen Eltern und ein paar fahrenden Händlern keiner Menschenseele begegnet. Und jetzt dreht sich scheinbar die ganze Welt um ihn.«
»Dann soll er aufpassen, dass er nicht selbst irgendwann . na ja .«
»Was?«
»Wenn sich alles nur noch um ihn dreht . wenn er im Mittelpunkt steht und das genießt, dann ist er doch selbst so was wie ein Mahlstrom, oder?«
Sie stellte sich bildlich vor, was Griffin da sagte, und musste sich widerwillig eingestehen, dass er Recht hatte.
War das nicht die größte Gefahr, die ihnen drohte: dass sie selbst zu dem wurden, was sie eigentlich bezwingen wollten?
»Ich habe mit Urvater darüber gesprochen«, sagte sie.
»Über Munk?«
Sie schüttelte den Kopf. »Über das, was mit uns geschieht. Wie wir uns verändern. Dass es nur noch darum geht, den Erwartungen der anderen zu entsprechen - und überhaupt nicht mehr wichtig ist, was wir eigentlich selbst von uns erwarten.«
Die Nadelstiche in ihrem Rücken hörten einen Moment lang auf.
»Was ist?«, fragte sie und versuchte, über die Schulter zu ihm aufzublicken. Er arbeitete jetzt im Schein mehrerer Kerzen. Vor dem Fenster hatte die Nacht Einzug gehalten.
»Aber es ist wahr«, sagte er leise. »Du bist wirklich etwas Besonderes.«
»Nur weil ich eine Quappe bin? Weil meine Eltern zufällig am richtigen Ort waren, als sie mich gezeugt haben? Das macht mich doch nicht zu etwas Besonderem.« Sie redete sich in Rage, auch wenn sie wusste, dass sie sich damit etwas vormachte. In den vergangenen Tagen hatte sie viel über diese Dinge nachgedacht. »Andere können eben besonders gut reiten. Oder zeichnen. Oder fremde Sprachen lernen. Ich kann übers Wasser gehen. Genau genommen ist das kein großer Unterschied, und schon gar keine Frage des Talents. Ich kann es einfach, verstehst du? Ich musste nie irgendwas dafür tun. Ich muss mich nicht mal dabei anstrengen.«
Noch immer ruhte die Nadel.
»Das hab ich gar nicht gemeint«, sagte er ruhig. »Ich habe gesagt, dass du etwas Besonderes bist. Nicht deine Fähigkeiten. Nur du, Jolly.«
Sie spürte, wie sich Wärme in ihr breit machte. Sie wollte sich zu ihm umdrehen, aber er hielt sie mit einer Hand zurück.
»Nein, nicht. Du verschmierst die ganze Tinte.«
Sie blieb auf dem Bauch liegen, aber verrenkte sich fast den Hals, um ihn anzusehen. »Das hast du ziemlich nett gesagt.«
Er lächelte, und zum ersten Mal erlebte sie ihn beinahe beschämt. »Die hohe Piratenschule der Konversation«, sagte er. »Manchen liegt das halt im Blut.«
»Sicher«, sagte sie grinsend. »Komm mal her.«
»Ich bin doch schon…«
»Noch näher, meine ich.«
Er beugte sich vor und schloss die Augen. Sie hob den Oberkörper, um ihn zu küssen. Als sie seine Lippen berührte, war es, als stächen Nadeln in jede Pore ihres Körpers. Aber es tat nicht weh, es kribbelte nur. Ihr wurde heiß und kalt zugleich, und da war etwas Neues in ihr, etwas ganz und gar Verwirrendes.
Er schlug die Augen auf und sah sie an, während sie sich küssten. Sie konnte sich nicht erinnern, irgendeinem Menschen jemals so nahe gewesen zu sein.
»Jolly -«, begann er, wurde aber von einem Geräusch unterbrochen. Hastig drehte er sich um. Beide sahen zum anderen Ende des Zimmers.
»Ich . hab geklopft«, stammelte Munk, der bleich wie ein Geist in der offenen Tür stand. »Aber es hat keiner was gesagt . und da hab ich . Ich meine .«
Er verstummte und starrte sie an: Jolly mit nacktem Oberkörper auf dem Bett, Griffin ganz nah neben ihr, eine Hand auf ihrer Taille.
Dann machte er auf dem Absatz kehrt, ließ die Tür offen
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