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Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Titel: Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihre Bräuche geehrt und sich schließlich selbst zu ihrem König aufgeschwungen.
    Und nun starben seine Untertanen für ihn in Scharen, verblendet von seinen Versprechungen, irregeleitet und ausgenutzt. Am Ende mochte ihr Sieg warten, aber um welchen Preis? Der Mahlstrom würde keinen Unterschied machen zwischen ihnen und den anderen Menschen. Er würde sie vom Antlitz der Erde fegen, ehe sie das Ausmaß seiner Täuschung erkennen konnten.
    Derweil wütete der geflügelte Schlangengott unter ihnen wie ein Dämon und verbreitete unter Freund und Feind gleichermaßen Entsetzen. Ihm hatten die Bewohner der Stadt zu verdanken, dass der Wall auf dieser Seite Aeleniums noch immer standhielt. Viele Pfeile ragten aus seinem Schuppenleib, doch seine Schwanzspitze und mehr noch das furchtbare Maul säten vielfachen Tod unter den Angreifern.
    Soledad hatte erwartet, dass die Kannibalen beim Auftauchen der Schlange in Panik geraten würden, doch das hatte sich als vorschnelle Hoffnung erwiesen. Als die ersten Pfeile die Schlangenhaut durchschlugen, verloren die Stammeskrieger ihre Ehrfurcht und warfen sich dem Wesen in verzweifelten Wellen entgegen. Manche schlugen ihm Wunden, andere erbeuteten gar eine Purpurfeder aus seinen Schwingen. Doch keinem blieb Zeit, den Triumph auszukosten.
    Soledads Arm erlahmte allmählich, ihre Verletzungen brannten sich immer stärker in den Vordergrund ihres Denkens. Ihr ganzer Körper tat weh, und ihre Sicht verschleierte sich sogar mitten im Gefecht. Ihre Reserven gingen zur Neige.
    Etwas musste geschehen. Bald. Sonst endete an diesem Tag weit mehr als nur ihr Leben.
    Der Rochenhort im Gipfel des Korallenbergkegels war verlassen, als der Geisterhändler durch das große Tor trat. Sogar die Jungtiere nahmen an den Kämpfen teil.
    Alle Hortknechte waren mit ihren Schützlingen unten in der Stadt, um auf Plätzen und in breiten Gassen für die verwundeten Rochen zu sorgen. Nur einen feuchten, leicht fischigen Geruch hatten sie hier oben zurückgelassen.
    Draußen war es längst Nachmittag geworden, und die Sonne stand tief, sodass ihre Strahlen nur den Rand der kreisrunden, fünfzig Fuß breiten Öffnung in der Decke beschienen; die Kante glühte dort oben wie ein goldener Ring und spiegelte sich in den Wasserlachen am Boden.
    Der Geisterhändler durchmaß die leere Halle mit weiten Schritten und näherte sich der Treppe, die in weitem Schwung an den gewölbten Wänden hinauf zur Öffnung führte. Er hatte gerade die ersten Stufen erklommen, als sein Blick in eine der Gruben fiel, die überall am Fuß der Wände klafften.
    Er hatte sich getäuscht, als er angenommen hatte, alle Unterkünfte der Rochen seien leer. Ein einzelnes Tier war noch da, in einer Grube schräg unterhalb der Treppe, und selbst von den Stufen aus erkannte der Händler an der ledrigen Haut und den schnaufenden Atemzügen, dass es sich um einen besonders alten Rochen handelte. Offenbar war er zu schwach, um draußen mit den anderen zu fliegen.
    Der Geisterhändler zögerte kurz, dann stieg er die Treppe wieder hinunter, trat an den Rand der Grube und ging dort in die Hocke. Seine Knie schmerzten bei der Bewegung, sein ganzes Gerippe schien zu ächzen und zu knarren.
    Das Tier lag dort unten in wohliger Nässe, mit gespreizten Schwingen, durch die bei jedem seiner keuchenden Atemzüge eine sanfte Wellenbewegung ging.
    »Na, mein Alter«, sagte der Händler und hatte das irritierende Gefühl, zu sich selbst zu sprechen. »Ich vermute, du wärst gerne da draußen bei den anderen, nicht wahr? Das ist das Schwierige daran, wenn man einmal erkannt hat, wohin und zu wem man gehört - man kommt nicht mehr davon los, ob man will oder nicht.« Er lächelte bekümmert. »Mir geht es nicht anders.«
    Er hob den Blick und sah am Verlauf der Treppenstufen zur Deckenöffnung hinauf. Ringsum erstreckte sich dort oben ein Plateau, der höchste Punkt der Seesternstadt. Um wirklich alle Geister der toten Götter heraufzubeschwören, musste er die gesamte Stadt unter sich ausgebreitet sehen, mit jedem Winkel, in dem einer von ihnen gestorben war.
    Das Tier schnaufte noch lauter, seit es den Besucher bemerkt hatte. Der Geisterhändler wusste nicht, ob der Rochen seine Bedeutung witterte; wohl kaum, dachte er, denn er war ein Gott der Menschen, nicht der Tiere. Das unterschied ihn und alle anderen Götter Aeleniums von den drei Wasserweberinnen, die dieser Welt nicht aufgezwungen worden, sondern aus ihr selbst entsprungen waren, aus jeder Pflanze,

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