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Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber

Titel: Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zuckte nicht einmal. Aber als der Geisterhändler behutsam seine Hände von Urvaters Schultern hob und um ihn herumtrat, sah er, dass das Leben aus dem Leib des Alten gewichen war wie ein junger Vogel, der sein Nest verlässt. Und mit ihm flog die Geschichte von Urvater hinaus in die Welt, um erzählt und gehört und wieder erzählt zu werden.
    »Leb wohl, mein Freund«, flüsterte der Händler, beugte sich vor und küsste den alten Mann auf die Stirn. »Dein Weg war schwer, doch heute ist er der leichtere, denn er geht anderswo weiter, ohne Last und Schuld und Trauer.«
    Der Geisterhändler vergrub das Gesicht in den Händen und weinte, bis seine Tränen versiegten.
    Dann machte er sich auf den Weg zum höchsten Punkt der Stadt, dorthin, wo Aelenium fast an den Himmel stieß. Im Gehen zog er den Silberreif unter seinem Gewand hervor. Seine Fingerspitzen strichen über das Metall, ertasteten die unsichtbaren Ströme der Macht.
    Er blickte nicht zurück zu Urvater, als er die Bibliothek verließ. Ihm war, als hörte er tausend Stimmen in der Ferne, und sie alle erzählten die eine Geschichte. Und damit wurde sie wahr.

Der alte Rochen

    Wie ein fernes Rumoren drang der Lärm der Schlacht in Griffins Bewusstsein. Erst war es ein dumpfes Brausen und Tosen wie Wind, der bei Nacht gegen die Bordwand schlägt und die Segel geisterhaft flattern lässt. Dann schälten sich Stimmen heraus, Schreie, das Klirren von Klingen und Donnern abgefeuerter Pistolen und Büchsen.
    Griffin fuhr auf. Er lag auf dem harten Boden eines Hauses, zwischen stöhnenden Verletzten, die man wie in einem Lazarett nebeneinander aufgereiht hatte, die meisten nur auf Decken, einige - wie ihn - auf dem harten, blanken Boden.
    Jemand hatte ihm ein paar alte Kleidungsstücke unter den Kopf geschoben. Die Luft war feuchtwarm und schwer, die Ausdünstungen von Blut, Schweiß und Todesangst vermischten sich zu einem ranzigen Gestank.
    Griffin stemmte sich hoch und taumelte benommen auf die Füße. Wie betäubt bewegte er sich auf den Ausgang zu. Er musste Acht geben, nicht über die anderen Männer - und ein paar Frauen - am Boden zu stolpern. Ein Arzt, der über einen Verwundeten in durchnässten Bandagen gebeugt war, warf Griffin nur einen erschöpften Blick zu, dann wandte er sich wieder demjenigen zu, der seine Hilfe nötiger hatte.
    Die Wunde in Griffins Seite schmerzte, vor allem, weil er sich zu ruckartig aufgerichtet hatte. Er sagte sich selbst, dass es nicht schlimm sei, und er schämte sich, weil man ihn wegen dieser Kratzer hierher gebracht hatte.
    War er so geschwächt gewesen? Er konnte sich kaum erinnern. Er sah Soledad vor sich, die von einer Korallenbrücke mitten in Tyrones Leibgarde sprang. Und da waren auch Buenaventure und Walker gewesen. Aber dann? Ein verzweifelter Kampf. Beißender Rauch. Und irgendein helles Licht, in dem sich etwas bewegte, das wie eine riesenhafte Schlange aussah.
    Ja, er erinnerte sich an die Schlange. Und an ihre gefiederten Flügel.
    Ganz diffus auch an Männer, die ihn auf dem Rücken eines Rochens festhielten, während unter ihm das Gewimmel einer Schlacht vorüberzog. Dann nichts mehr. Das war kein Schlaf gewesen, sondern Bewusstlosigkeit.
    Während er durch die Tür ins Freie stolperte, drängten noch mehr Bilder in ihm empor. Die Klabauter im Wasser. Der Gestaltwandler, der vor ihm in tausende winzige Käfer zerfloss. Und dann Jasconius, der mit aufgerissenem Maul aus der Tiefe emporschoss und den Quallenjungen verschlang.
    Jasconius, der sich für ihn geopfert und den Herrn der Klabauter besiegt hatte.
    Griffin lief hinaus auf die Gasse. Sofort umfing ihn der Tumult, der hinter den Reihen jeder Schlacht herrscht: Gestalten, die wie Ameisen durcheinander wimmelten; Verletzte, die vom Schlachtfeld getragen wurden, manche stumm, andere schreiend; vereinzelte Männer, die die Nerven verloren hatten und nun hektisch hin und her rannten, dabei wirre Wortfetzen murmelten oder in Tränen ausbrachen.
    Vergeblich hielt er Ausschau nach seinen Freunden. Vor ihm lag einer der größeren Plätze der Stadt. Früher hatten hier Händler an Ständen und in Zelten Waren angeboten, die sie mit ihren Schiffen auf Haiti oder den Antilleninseln eingekauft hatten. Es hatte fröhliches Gedränge geben, Wohlgerüche von Gewürzen und exotischen Speisen, sogar in jenen letzten, angespannten Tagen vor der Invasion.
    Heute war der Platz bedeckt mit verwundeten oder erschöpften Kämpfern, die hier einen Augenblick der Ruhe suchten.

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