Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber
Turm, der mit unbegreiflicher Geschwindigkeit um sich selbst rotierte. Er wuchs aus einem Gebilde empor, das sie erst bei genauerem Hinsehen als riesenhafte weiße Muschel erkannte, halb begraben im Boden: zwei fächerförmige Hälften, weit auseinander geklappt, sodass nur noch ihre gewellten Ränder aus dem Untergrund hervor schauten. Sie reichten von einem Ende der Quappensicht zum anderen.
Die Riesenmuschel war umgeben von einem See aus kleineren Gehäusen, deren Zahl größer wurde, je näher Jolly dem Zentrum des Schorfenschrunds kam. Bald schwebte sie über tausende faustgroßer Muschein hinweg, ein lückenloser Teppich, unter dem der Sand völlig verschwunden war.
Der Fuß des Mahlstroms, jene Säule aus tobenden Wassermassen, war nicht breiter als die Wehrtürme der Klippenfestungen, die Spanier, Engländer und Franzosen auf den Inseln der Karibik errichtet hatten. Doch es war ein Unterschied, einem Turm aus festem Stein oder einem aus strudelndem, rasendem Wasser gegenüberzustehen. An seinem Fuß, im Zentrum des aufgeklappten Muschelgiganten, wogten Wolken aus aufgewühltem Sand; sie waren der einzige Hinweis darauf, dass sich die Kräfte des Mahlstroms überhaupt auf seine nahe Umgebung auswirkten. Noch immer spürte Jolly keinen körperlichen Sog. Lediglich das Zerren in ihren Gedanken blieb bestehen, so als löse der Anblick des Mahlstroms einen kaum zu kontrollierenden Wunsch aus, näher an ihn heranzuschwimmen.
Mochte der Fuß des trichterförmigen Mahlstroms auch schmal sein im Vergleich zu seiner meilenweiten Ausdehnung an der Meeresoberfläche, so war doch der Anblick dieser wirbelnden Wassersäule genug, um ein Gefühl maßloser Ehrfurcht in Jolly heraufzubeschwören. Sie hatte sich manches Mal während ihres Weges durch die Tiefe vorgestellt, wie es wohl sein würde, dem Mahlstrom gegenüberzustehen. Nun endlich wusste sie es: Das Panorama raubte ihr den Atem, ließ sie sich winzig und machtlos fühlen, und daran änderte auch das ungeduldige Pulsieren in ihrer Gürteltasche nichts.
Ihre Muscheln drängten darauf, endlich freigelassen zu werden. Die Magie in ihren Gehäusen rumorte und tobte, und Jolly fragte sich beklommen, ob sich diese Kräfte im Angesicht der Riesenmuschel nicht gegen sie selbst wenden könnten. Das Meer aus Muscheln unter ihr ließ sie an ihren eigenen Fähigkeiten zweifeln. Entzog der Mahlstrom all diesen tausenden und abertausenden von Muscheln die Magie, um so seine eigene Stärke zu vermehren?
Sie sah nirgends Klabauter, keine Befestigungen oder andere Abwehrvorrichtungen. Dies hier war keine Festung, in der Aina wie in einem verwunschenen Schloss residierte. Wie viele magische Perlen waren aus diesen Muscheln aufgestiegen, und welche Macht verliehen sie ihrer neuen Besitzerin? Zum einen die Stärke, sich den Ozean selbst zu unterwerfen, ihn zu einem alles verschlingenden Strudel zu formen. Zum anderen die Gewalt über das Gefüge der Welten und die Kraft, ein Portal zwischen ihnen zu öffnen.
Dabei, und davon war Jolly überzeugt, hatte die echte Aina schon vor Jahrtausenden aufgehört zu existieren. Die Gewalten, die das Mädchen einst heraufbeschworen hatte, hatten sie vor langer Zeit verschlungen. Wie eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Geblieben war nur der Kopf, ihr Geist, ein Bündel aus Hoffnungen, Erinnerungen und Rachegedanken. Aus ihnen hatte der Mahlstrom jenes körperlose Abbild geformt, das er ihnen entgegengeschickt hatte, um Munk zu betören.
Aus den haushohen Staubwolken im Zentrum der Muschel, dort wo ihre Hälften aneinander stießen und sich der Trichter des Mahlstroms emporschraubte, löste sich eine Gestalt, so verschwindend klein vor dem atemberaubenden Hintergrund, dass Jolly sie beinahe übersehen hätte.
Jolly verharrte in der Schwebe. Sie war hergekommen, um… ja, um was zu tun? Etwa um ihre Muscheln auszupacken, einen kleinen Kreis zu legen und zu hoffen, dass der Schatten von Magie, über den sie gebot, hier unten irgendetwas bewirkte?
Die Gestalt schwebte nur wenige Fuß über dem Muschelteppich auf sie zu. Jolly sah jetzt, dass es Munk war. Die Sogkraft des Mahlstroms in seinem Rücken ließ ihn vollkommen unberührt.
»Kommst du, um mit mir zu kämpfen?«, rief sie ihm entgegen. Ihre Stimme schwankte, aber es hatte keinen Zweck, ihre Unsicherheit zu überspielen. Er kannte sie viel zu gut, um nicht längst zu wissen, was sie empfand.
»Es tut mir weh, dich so zu sehen«, sagte er, während er näher kam,
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