Die Wellenläufer 03 - Die Wasserweber
bin wie die Schrift auf diesem Papier.« Er deutete auf das Buch mit den leeren Seiten, das er gerade zugeschlagen hatte. »Ohne es selbst zu bemerken, bin ich schon vor langer Zeit verblasst. Es scheint nur so, als wäre die Schrift noch da, weil wir die Worte auswendig kennen, du und ich und ein paar von den Menschen in dieser Stadt. Aber in Wahrheit« - er atmete einmal tief durch -, »in Wahrheit kann mich keiner mehr lesen.«
Der Geisterhändler wollte widersprechen, doch abermals hielt ihn Urvater mit einer Geste davon ab.
»Hüte dich zu behaupten, ich würde hier noch gebraucht!« So vehement diese Worte auch klangen, so unterstrich der alte Mann sie doch mit einem sanftmütigen Lächeln. »Ich habe diese Welt geschaffen, das ist richtig, aber ich habe sie nie beschützen können - nicht vor Gefahren von außen und nicht vor sich selbst. Mein Platz ist nicht mehr hier. Lass mich ziehen, alter Freund, bevor ich das Ende mit eigenen Augen erleben muss.«
»Ich soll -«
»Ich bitte dich darum.«
Der Geisterhändler machte einen Schritt zurück und hielt sich mit einer Hand an einer Tischkante fest. Sein Ellbogen stieß gegen einen Bücherstapel und brachte ihn zum Einsturz. Keiner der beiden Männer sah auch nur hin, als die schweren Bände in einer Staubwolke zu Boden polterten und wie tote Tauben mit gespreizten Flügeln liegen blieben.
»Du allein vermagst, mir diesen letzten Gefallen zu tun«, sagte Urvater eindringlich. »Wenn ich selbst es einmal gekonnt habe, so ist das lange her - ich kann mich nicht daran erinnern. Aber du, mein Freund, du kannst es.«
Urvater mochte nach außen hin in Rätseln sprechen, doch der Geisterhändler verstand jedes seiner Worte. Ihr Sinn lag so deutlich vor ihm, als hätte jemand sie mit einem Diamanten in Glas geschnitten. Und ebenso schmerzhaft war ihr Klang in seinen Ohren.
»Du verlangst viel.«
»Nein«, sagte Urvater. »Nur Entschlossenheit.«
»Es ist mehr als das. Du bist -«
»Alt.«
»Das sind wir alle.«
»Alt und verblichen. Und so gut wie vergessen. Sie mögen etwas verehren, von dem sie glauben, dass ich es bin. Der namenlose Schöpfer, der Vater von allem, das Wort am Anbeginn der Zeit. Aber das bin nicht wirklich ich. Die Wahrheit haben sie vergessen, und bald wird es mir ebenso ergehen wie all den anderen vergessenen Göttern, die ich selbst einst erschaffen habe. Ich werde schwinden.«
»Du willst, dass ich dich in eine Geschichte verwandele? So wie ich es mit Munks Mutter getan habe?«, fragte der Geisterhändler mit bebender Stimme. »Aber das ist, als würde ich dich töten!«
»Nein. Du schenkst mir eine Zukunft, falls es so etwas in dieser Welt noch geben kann. Tu es, mein Freund.«
»Aber es ist falsch.«
Urvater schüttelte mit einem Schmunzeln den Kopf.
»Wie könnten Geschichten falsch sein? Das weißt du besser. Ich bitte dich. Und danach…«
»Wirst du als Geschichte weiterleben«, sagte der Geisterhändler dumpf. Vielleicht hatte Urvater Recht. Was waren sie, die Götter, in den Augen der Menschen anderes als Geschichten?
Urvater las seine Gedanken. »Ich wusste, du würdest es verstehen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, sank er zurück auf den Stuhl. Er legte die rechte Hand auf den Bucheinband, so als fühlte er sich den leeren Seiten darunter verbundener denn je. »Tritt hinter mich«, sagte er und schloss die Augen.
Der Geisterhändler zögerte noch immer. Dann überwand er sich, machte einen Schritt hinter Urvaters Rücken und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Tränen sammelten sich in seinem einen Auge, und es dauerte nicht lange, da rannen sie über seine Wange. Es war das zweite Mal innerhalb weniger Minuten, dass er weinte. Davor waren Jahrhunderte verstrichen, ohne eine seiner Tränen zu sehen, doch nun tropften sie freimütig auf Urvaters Schulter und wurden von dem Gewand aufgesogen.
»Ich mache dich zu einer Geschichte«, sprach er sanft. »Du wirst eine Geschichte sein, in der Licht aus Dunkelheit entsteht. In der Völker geboren werden und vergehen. In der Leid und Unrecht geschehen, aber auch Glückseligkeit und große Freude. Eine Geschichte vom Entstehen und Vergehen, von Aufstieg und Untergang und der steten Hoffnung auf einen Neubeginn. Von Vätern und Söhnen und Geistern und dem Leben in Ewigkeit. Und von den Menschen, die du geschaffen hast und die sich diese Geschichte erzählen werden, denn sie sind Teil davon und auf immerdar eins mit ihr.«
Der gebrechliche Körper sackte nicht zusammen,
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