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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Abfassung dieser »Muqaddima« unweigerlich zu sprunghaften thematischen Abweichungen, zu widersprüchlichen Wahrnehmungen und zu Wiederholungen. Wir erwähnten die List der mandschurischen Qing-Kaiser, die eine systematische Bekehrung der wilden Nomadenvölker zum Buddhismus förderten, und die, wie manche gebildeten Mongolen unserer Tage behaupten, zur Zähmung ihrer kriegerischen Instinkte, ja zu einer Art »Kastration« geführt hätte. Machen wir uns nichts vor! Der beharrliche Druck, den Europäer und Amerikaner in unseren Tagen auf fremde Kulturkreise ausüben, damit sie die westlichen Normen von Parteienvielfalt und Meinungsfreiheit, kurzum von Demokratie übernähmen, wird von vielen Völkern Asiens und Afrikas als heimtückischer Versuch gewertet, die Bildung von neuen Machtzentren zu verhindern sowie Schwäche und Zwietracht zu säen.
    Wenn in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Gründer der modernen Türkei, Kemal Pascha, der den Namen Atatürk annahm, noch die europäische Zivilisation als die einzig gültige pries, so weigerte er sich doch konsequent, deren Botschaft der Menschenrechte zu übernehmen. Er regierte mit einer Einheitspartei, gestützt auf die Armee, und bezeichnete die Kurden, die sich einer ethnischen Assimilierung verweigerten, kurzerhand als »Bergtürken«. Inzwischen hat in Ankara eine Entmachtung der Generale und die Toleranz eines Mehrparteiensystems stattgefunden, aber diese »demokratischen Reformen« Recep Tayeb Erdogans vollzogen sich im Zeichen einer Re-Islamisierung der Massen und des Aufkommens einer Nostalgie osmanisch-imperialer Größe, deren Auswirkung noch nicht abzuschätzen ist.
    Man stelle sich andererseits vor, durch irgendeine skurrile Schicksalsfügung würde die deutsche Form des Parlamen­tarismus auf China übertragen. Dann würde das Reich der Mitte sehr schnell in einen Zustand der Desintegration und der ­Entscheidungsunfähigkeit verfallen. Aber genau das, so ar­gumentiert man in Peking, sei ja die Absicht, wenn die Angleichung an das Modell der westlichen Demokratie gefordert wird. Sehr wohl ist andererseits vorstellbar, daß die stete Anhebung des Lebensniveaus und der Austausch mit fremden Kulturen eine Form der politischen Mäßigung, eine Förderung der »Harmonie« zur Folge hätte, die eine Entkrampfung der starren heutigen Zustände Chinas mit sich brächte. Wenn ich jedoch in deutschen Gazetten lese, daß es »ohne Freiheit keinen Frieden gibt, auch nicht in China«, dann kann man sich nur wundern über so viel eurozentrische Naivität.
    Der vielzitierte Amerikaner Samuel Huntington erwähnt in seiner Studie über den »Clash of Civilizations« die Möglichkeit einer strategischen Abstimmung zwischen den Weltmacht-Ambitionen Chinas und den islamischen Träumen von einem neuen Kalifat. Der Aufruhr der Uiguren in Chinesisch Xinjiang wird im Reich der Mitte ein Randphänomen bleiben. Mir selbst war es vergönnt, in der Hochburg der türkisch-islamischen Minderheit, in der ehrwürdigen Moschee von Kashgar, der dringenden Aufforderung von ein paar jugendlichen Aktivisten folgend, am Freitagsgebet teilzunehmen. Damit löste ich große Unruhen bei meinen chinesischen Begleitern aus. Der große islamische Aufstand, der im Jahr 1931 in dieser extremen Westprovinz ausbrach und von Sven Hedin in seinem Buch »Die Flucht des großen Pferdes« geschildert wird, war ja gar nicht von den Uiguren ausgegangen, sondern von jener weit zahlreicheren Gruppe zur koranischen Lehre bekehrter Han-Chinesen, die man früher als »Dunganen« bezeichnete und heute »Hui« nennt. Sie mögen insgesamt dreißig Millionen Gläubige zählen, die bis in die Südprovinz Yünan und in die Mandschurei verstreut leben. Sie zeichnen sich meist durch tugendhafte Frömmigkeit aus. Mao Zedong hatte ihnen sogar in der Schleife des Gelben Flusses die Autonome Region Ning Xia eingeräumt, verlieh also einer speziellen religiösen Zugehörigkeit den Rang einer eigenen Nationalität, wie es in Jugoslawien Marschall Tito mit den muslimischen Bosniaken praktizierte. Diese Hui haben sich dem Aufbegehren der Uiguren bisher nicht angeschlossen und sich nach den entsetzlichen Drangsalierungen der Kulturrevolution ziemlich reibungslos in das Gefüge der Volksrepublik eingeordnet. Ähnlich anpasserisch

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