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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Tibet entgegenwirken. Das Arrangement, das der damalige US-Präsident Richard Nixon dank der geduldigen Vorarbeit Henry Kissingers mit Mao Zedong vereinbarte, hat diesen Scharmützeln ein Ende gesetzt. Die enge Koordinierung der Aktivitäten des Dalai Lama mit dem amerikanischen Nachrichtendienst ist jedoch nicht abgebrochen. Die kleine Exilarmee, deren Existenz sich mit dem offiziellen Gewaltverzicht des tibetischen Gottkönigs und Friedensnobelpreisträgers schlecht vereinbaren läßt, operiert heute nicht mehr unter amerikanischem, sondern unter indischem Oberbefehl. Doch die subversive Tätigkeit der USA auf dem Dach der Welt ist damit längst nicht beendet.
    Man mag mir entgegenhalten, ich erläge den Mythen einer weitverbreiteten Verschwörungspsychose, aber es war bestimmt kein Zufall, daß unmittelbar vor Austragung der Olympischen Spiele in Peking ein tibetischer Aufruhr in Lhasa gegen die dort lebenden chinesischen Beamten und Ladenbesitzer ausbrach. Die Anstiftung zu dieser Revolte, die zu einer weltweiten Kampagne gegen die Volksrepublik aufgebauscht wurde, sei – zuverlässigen Quellen zufolge – im indischen Refugium und Sanktuarium des Dalai Lama von Dharamsala angezettelt worden. Eine vergleichbare Stimmungsmache, die darauf hinzielte, die in Shanghai stattfindende Weltausstellung zu diskreditieren, wurde in der Autonomen Region Xinjiang durch die ethnisch und religiös motivierte Revolte der Uiguren angeheizt. In diesem Falle konnte sich die Schürung der Unruhen auf die Einwirkung von uigurischen »Jihadisten« zurückführen lassen, die in den pakistanischen Kampflagern Waziristans militärisch ausgebildet und salafistisch indoktriniert werden. Inwieweit dabei der einflußreiche pakistanische Geheimdienst ISI und die amerikanische CIA heimlich mitgewirkt haben, läßt sich nicht eruieren.
    In der arabisch-islamischen Welt ist der Begriff »mu’amarat«, das heißt Verschwörung, zur Obsession geworden und muß als gewichtiger politischer Faktor wahrgenommen werden. Als Beobachter vor Ort kann man sich diesen Zwangsvorstellungen nicht ganz entziehen. Mag die Behauptung auch noch so absurd klingen: Die Vernichtung des World Trade Centers von Manhattan wird von den Massen der gläubigen Muslime im Brustton der Überzeugung als ein getarntes und zynisches Komplott von CIA oder Mossad dargestellt. Ich selbst konnte in der texanischen Stadt Dallas feststellen, daß keiner meiner dortigen Gesprächspartner an eine Einzeltäterschaft Lee Harvey Oswalds bei der Ermordung John F. Kennedys glaubte, sondern an die Existenz einer wie auch immer gearteten Konspiration.
    Die modernen Geheimdienste verfügen nun einmal über kaum vorstellbare Fähigkeiten der Observation und der Manipulation. Die Bilder der Fotografen oder Dokumentarfilmer, die früher als unwiderlegbarer Beweis irgendeines politischen oder kriegerischen Vorgangs galten, sind heute zu den wirksamsten Instrumenten der Desinformation geworden. Schon sehr früh vermochten unsere Kameramänner aus einer unbedeutenden Ansammlung von Menschen eine Massendemonstration und umgekehrt aus einem gewaltigen Aufruhr ein isoliertes Randereignis zu machen. Selbst das Foto des genialen Kriegsreporters Capa, das den tödlich getroffenen Kämpfer des spanischen Bürgerkriegs mit erschütternder Spontanität darstellt, hat sich unlängst als eine kunstvolle Inszenierung erwiesen. Mit den bescheidenen elektronischen Mitteln, die mir bei meinen letzten Fernsehdokumentationen zur Verfügung standen, hätte es mir durchaus gelingen können, den Präsidenten George W. Bush unmittelbar neben Osama Bin Laden in eine Höhle des Hindukusch zu zaubern und sie beide »Allahu akbar« rufen zu lassen. Bei dieser Allmacht der Täuschung, aber auch bei der schier unbegrenzten Fähigkeit der Aufdeckung von Fakten kommt es immer wieder zu kollektiven Irreführungen, aber auch zu fatalen Fehlanalysen und zu ideologischer Verblendung. Das Ganze stimmt furchterregend, aber andererseits auch hoffnungsvoll im Hinblick auf das Versagen einer vorfabrizierten Fatalität.
    Von Tsingtau bis Faizabad
    Die Welt ist wirklich aus den Fugen geraten, seit die verschwommenen Konturen einer Multipolarität »sui generis« sich von Tag zu Tag verändern und vielerorts überlagern. Diese Absenz eines verbindlichen internationalen Systems verführt bei der

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