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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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verhielten sich übrigens die Kasachen und die wenigen Tadschiken, die im fernen Westen ihre Herden weiden und ihre Blicke allenfalls auf die zentralasiatischen Republiken Kasachstan oder Tadschikistan richten. Mit diesen sind sie neuerdings durch die sensationelle chinesische Pionierleistung auf einer Höhe von 5000 Metern über eine Reihe von Paßstraßen erreichbar.
    Auch mit der Islamischen Republik Pakistan, die eine heimliche Allianz mit Peking eingegangen ist, um die überlegenen Streitkräfte Indiens in Schach zu halten, ist China heute durch den schwindelerregenden Ausbau des Karakorum-Highways zu einer breiten Allwetterroute strategisch verbunden. Daß eine Anzahl uigurischer »Salafisten« sich in den Ausbildungslagern der Taleban in den unkontrollierbaren »Tribal Areas« Nordpakistans eingefunden hat, wirkt sich mit Rücksicht auf den endlosen, mörderischen Kaschmir-Konflikt, der von den beiden Nachfolgestaaten des britischen Empires auf dem Subkontinent ausgetragen wird, bislang nicht als Belastung auf die engen Beziehungen zwischen Peking und Islamabad aus. Konfuzionismus, Buddhismus, islamischer Extremismus berühren einander in den vereisten Höhen des Himalaya und des Pamir-Gebirges. Selbst die mongolischen Politiker verweisen auf die ethnisch-konfessionelle Spannung, die eines Tages am äußersten Westrand ihrer Republik von der relativ geringen Minderheit turkstämmiger und islamisierter Kasachen ausgehen könnte.
    *
    Die wenigsten Deutschen sind sich bewußt, daß sie im Zuge des Einsatzes der Bundeswehr vorübergehend zum unmittelbaren Nachbarn Chinas geworden sind. Diese Einflußzone befindet sich am entgegengesetzten westlichen Ende des Reiches der Mitte, an den Antipoden gewissermaßen jenes östlichen Pazifikhafens Tsingtau, den das wilhelminische Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg okkupiert hatte. Der deutsche Sektor im Nordosten Afghanistans, der die Provinz Badaghshan umschließt, berührt mit dem schmalen Schlauch des Wakhan-Zipfels auf einer Breite von höchstens dreißig Kilometern das Territorium von Xinjiang, anders gesagt, der »Autonomen Region der Uiguren und Kasachen«. Dieser Außenposten ist vermutlich niemals von einem deutschen Soldaten betreten worden, denn die Garnison der Provinzhauptstadt Faizabad, die sich in einem befestigten Lager verschanzt hat, fühlte sich ans Ende der Welt versetzt und wäre nach Einbruch des Winters total isoliert gewesen. Die absurde Ausweitung des afghanischen Staatsgebiets auf das Wakhan-Tal wurde vor dem Ersten Weltkrieg zwischen London und Sankt Petersburg nur auf die Landkarte projiziert, um dem »great game«, dem Ringen um die Vormachtstellung in Zentralasien, das sich Großbritannien und Rußland lieferten, durch diese symbolische geographische Trennung ein Ende zu setzen.
    Es wird wohl nicht lange dauern, bis die Straßenbauer der Volksrepublik China auch den 5000 Meter hohen Paß, der an dieser Stelle Afghanistan von Xinjiang trennt, durch eine Transitstrecke überwinden. Die »Söhne des Himmels« sind längst am Hindukusch in Erscheinung getreten, haben sich den Zugriff auf dortige Mineralvorkommen gesichert. Zwischen der Stadt Mazar-e-Scharif, in deren Nähe sich das deutsche Hauptquartier befindet, wird in aller Ruhe und ohne feindliche Einwirkung eine Eisenbahntrasse angelegt, die zur Grenze der Republik Usbekistan führt. Die ständige Verbesserung und Ausweitung des Verkehrsnetzes Afghanistans ist im wesentlichen auf die Tätigkeit chinesischer Ingenieure und Arbeiterkolonnen zurückzuführen und nicht etwa auf die stets bedrängte Entfaltung von NATO-Truppen und ISAF.
    Die Präsenz deutscher Truppen in Zentralasien geht allmählich dem Ende entgegen. Das Unternehmen war unter trügerischen Voraussetzungen und gezielter Irreführung mit dem utopischen Ziel des »nation building« und einer humanitären Hilfsaktion beschlossen worden. Bei meinem letzten Aufenthalt in Kundus, wo der zuständige Kommandeur dem Wunsch eines 87jährigen Journalisten, an der Patrouille zu einer vorgeschobenen Position im Süden teilzunehmen, mit höflicher Verwunderung stattgegeben hatte, stand ja ohnehin bereits fest, daß es für die Atlantische Allianz bis zum Jahr 2014 nur noch um zwei Probleme geht: Die internationalen Truppenkontingente sollen mit möglichst geringen Verlusten und unter Wahrung einer

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