Die Welt aus den Fugen
irakischer Armee die Abhaltung freier Wahlen. Tatsächlich ist eine groÃe Mehrheit der Iraker, vor allem die schiitischen Araber und die Kurden, bereitwillig zu den Urnen gegangen. Schon jubelten die westlichen Gazetten, daà in den streng schiitischen Südprovinzen â der »Partei Alis« gehören etwa siebzig Prozent der Gesamtbevölkerung des Irak an â auch die tief verschleierten Frauen ihre Stimme abgaben und daà von nennenswertem Wahlbetrug nicht die Rede war.
In Washington hatte man offenbar nicht wahrgenommen, daà bei diesem demokratischen Eifer der bislang durch die sunnitische Minderheit unterjochten und verachteten Gemeinde der Schiiten nicht etwa die Forderung des amerikanischen Statthalters den Ausschlag gegeben hatte, sondern die gebieterische »Fatwa« des höchsten schiitischen Geistlichen, des GroÃ-Ayatollah Ali es-Sistani. Dieser mystisch veranlagte Greis, der von seiner Theologieschule, seiner »Hauza«, von Nejef aus einen profunden Einfluà weit über die Grenzen des Irak hinaus ausübt, neigt der quietistischen, man möchte fast sagen, einer duckmäuserischen Geistesströmung seiner Konfession zu. Er lehnte den revolutionären Aktivismus eines Ayatollah Khomeini im benachbarten Iran stets ab und verlieà sich darauf, daà â auch unter Verzicht auf den Aufruf zum »Jihad« gegen die ungläubigen Besatzer â auf dem Wege eines authentischen Volksentscheids die »Partei Alis«, die Schiiten, im künftigen Parlament von Bagdad über eine deutliche Mehrheit verfügen und einen der Ihren zum Staatsoberhaupt berufen würde.
Trotz diverser Versuche der Amerikaner, manipulierend in die politischen Abläufe einzugreifen, steuerte der neue Irak auf eine Staatsform zu, die zwar nicht dem schiitischen Gottesstaat entsprach, den im benachbarten Iran der Ayatollah Khomeini ins Leben gerufen hatte. Die schiitischen Volksvertreter Mesopotamiens sympathisierten dennoch aufs engste mit ihren Glaubensbrüdern von Teheran und Qom. Von dem iranischen Konzept des »Wilayat-el-Faqih« â der Statthalterschaft eines berufenen und untadeligen Rechtsgelehrten an der Spitze des Staates, der den Willen des »Verborgenen Imams« der schiitischen Mythologie deuten und ausführen solle â distanzierten sich also die Schiiten Mesopotamiens. Auf der anderen Seite haben sich die Sunniten des Irak, die in den Westprovinzen, in Anbar und Ninive konzentriert leben, dagegen aufgelehnt, ihre traditionelle konfessionelle Dominanz zu verlieren. Ihre Prediger haben zum Heiligen Krieg gegen die US-Besetzer aufgerufen, die Okkupationstruppen â vor allem in Faluja â hart bedrängt und ihnen schwere Verluste zugefügt.
In der Umgebung Präsident Obamas nahm man mit Ãrger zur Kenntnis, daà die ungewollte Bevorzugung der Schiiten â auch wenn sich deren gewählter Präsident Nuri el-Maliki als geschickter Taktierer und Pragmatiker erwies â dem Einfluà der Islamischen Republik Iran Tür und Tor geöffnet hatte. Teheran schickte sich an, eine Koalition zu bilden mit dem von Schiiten beherrschten Irak, mit der arabischen Republik Syrien, in der die Sekte der Alawiten den Ton angibt, und vor allem mit der schiitischen Hizbullah des Libanon. Es zeichnete sich das Konstrukt einer iranisch dominierten geographischen Brücke ab, die von den Grenzen Afghanistans bis zum Mittelmeer reichen würde. Eine solche Perspektive stieà nicht nur in Israel auf vehemente Gegnerschaft, lebt man dort doch in der apokalyptischen Vorstellung einer persischen Atomaufrüstung, deren Zweck es sei, den Judenstaat auszulöschen.
Auch Washington hatte sich seit dem Sturz des Schah und der Geiselnahme der amerikanischen Botschaft von Teheran in eine geradezu hysterische Feindschaft gegen die iranische Theokratie gesteigert. Unmittelbar fühlte sich vor allem das sunnitische Herrscherhaus von Saudi-Arabien bedroht, dessen radikale wahhabitische Koran-Interpretation, deren »Salafismus«, wie man heute sagen würde, die Exzesse der afghanischen Taleban inspiriert und unbewuÃt auch der ominösen Terrororganisation El Qaida die religiöse Richtlinie vorgegeben hatte.
El Qaida stand zwar auch bei der saudischen Dynastie, deren zahllose Prinzen sich allzuoft den Sünden und Lastern des Westens hingaben, im Verdacht, gefährliche revolutionäre Umsturzpläne zu
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