Die Welt aus den Fugen
Oktober 2011 muÃten sie sich der Erkenntnis beugen, daà die islamische »Nahda«-Bewegung bei den einfachen Leuten, bei den ärmlichen Massen der Fellachen und Arbeiter, die absolute Mehrheit der Stimmen errang. Noch sind die Hoffnungen auf eine Wende zur »Demokratie« nicht erloschen, aber die Ãbergriffe fanatischer, salafistischer Gruppen mehren sich. Da werden Geschäfte, die Alkohol verkaufen, durch koranische Eiferer zertrümmmert. Für die emanzipierten Studentinnen der angesehenen Manuba-Universität ist es nicht ratsam, ohne Kopftuch zu den Vorlesungen zu kommen, wenn sie nicht angepöbelt, ja angespieen werden wollen.
Die Absicht einer resoluten Minderheit, zu den puritanischen Gesetzen der Scharia zurückzufinden, wird durch das häufige Auftauchen der schwarzen Fahnen der Salafisten verdeutlicht. Der ausländische Touristenstrom an die Strände von Hammamet und Djerba, der bis zum Regimewechsel für die Ausgleichung des Staatshaushalts unentbehrlich war, dürfte dieser früheren Idylle fernbleiben, falls dort demnächst das Tragen von Bikinis verboten würde. Dem Gemüsehändler Bouazizi wurde sogar ein Denkmal errichtet, aber in seiner Heimatstadt Sidi Bouzid ist es erneut zu Krawallen gekommen. Vorübergehend wurde sogar der Ausnahmezustand verhängt.
Wir sollten diesem nördlichsten Zipfel Afrikas, der in die unmittelbare Nachbarschaft Siziliens hineinreicht und auf Âarabisch »Ifriqiya« heiÃt, keine übertriebene Bedeutung Âbeimessen. Die spärlichen Ruinen von Karthago, die unweit der Hauptstadt unter den roten Blüten der Oleanderbüsche verschwinden, laden zu melancholischer Besinnlichkeit ein und keineswegs zu Träumen einer historischen Revanche. Für die Betrachtung, die ich hier anstelle, über die VerÂgänglichkeit der Imperien und die dem Abendland unbegreifliche politische Kultur des Islam drängt sich die Gestalt eines groÃen maghrebinischen Gelehrten des 14. Jahrhunderts auf, des Korangelehrten, Chronisten und Juristen Abdurrahman Ibn Khaldun. Seine für die damalige Epoche völlig ungewöhnliche objektive Analyse der orientalischen Gesellschaftsstrukturen hat ihm den Ruf eines »Vaters der Soziologie« eingebracht.
Zu Lebzeiten Ibn Khalduns fanden gewaltige Umschichtungen statt. Die katholische Reconquista Spaniens hatte seine Familie aus Sevilla nach Tunis vertrieben. Im »Maschreq«, im orientalischen Teil des Dar-ul-Islam, war als neue »GeiÃel Gottes« der turanische »Amir-el-kabir« Tamerlan aufgetaucht. Dieser dem Stamm der Chagatai angehörige Eroberer sollte die Vernichtungswut Dschingis Khans oder Hülagüs noch übertreffen. In den Städten, die sich seiner Eroberung widersetzten, lieà er die Bevölkerung ausrotten und aus ihren Schädeln Pyramiden oder â wie im Falle des total verwüsteten Kalifensitzes Bagdad â ganze Moscheen zusammenfügen. In Anatolien hatte er den osmanischen Sultan Bayazid besiegt und in einer endlosen Verfolgungsjagd den GroÃkhan der Goldenen Horde an der Wolga zur Strecke gebracht. Damit trug er ungewollt zur Wiedergeburt des christlich-orthodoxen RuÃland bei.
Von Damaskus aus holte er zur Eroberung Ãgyptens aus, aber dort stieà er auf die gepanzerte Schlachtordnung der Mamelucken, jener ehemaligen Kriegssklaven, die die Herrschaft über das Niltal an sich gerissen hatten und bis zu ihrer Niederlage durch die Armee Napoleon Bonapartes in der Schlacht an den Pyramiden beibehalten sollten. Die Greueltaten Tamerlans oder Timur Lenks, Timur des Lahmen, zwischen Pamir-Gebirge und Mittelmeer erscheinen um so unverzeihlicher, als dieser Schlächter sich selbst als frommen Muslim betrachtete und im heutigen Usbekistan, wo er als Nationalheld gefeiert wird, die herrlichsten Moscheen und die unvergleichliche Pracht des Registan-Palastes von Samarkand errichten lieÃ. An den öden, sandigen Ufern des Syr Daria habe ich die Stätte aufgesucht, wo er seine Horden zum Ãberfall auf China sammelte, aber bei einem allzu üppigen Festmahl dahingerafft wurde.
Es gehört zu den Torheiten der Europäer, die eigenen Kreuzzüge ins Heilige Land als einen Abgrund von Grausamkeit und Zerstörungswut zu schildern. Gemessen an den Verbrechen Tamerlans nehmen sich die blutigen Exzesse, deren sich die christlichen Befreier des Heiligen Grabes schuldig machten, relativ
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