Die Welt aus den Fugen
â wobei die Schiiten nur auf fünfzehn Prozent der gesamten »Umma« geschätzt werden â ist wieder unerbittlich aufgeflammt, seit Saddam Hussein seine Panzerdivisionen zum Sturz Khomeinis einsetzte, seit dem militärischen Erstarken der Hizbullah im Libanon und vor allem seit jener durch WikiLeaks enthüllten Aufforderung des saudischen Königs Abdullah an Präsident Obama, er solle doch endlich die Bomberstaffeln der US Air Force zur Vernichtung der persischen Nuklearanlagen ausschicken. Diese mörderische Rivalität zwischen Saudi-Arabien und der Islamischen Republik Iran überschattet das gesamte Geschehen im Mittleren Osten.
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Für Moskau, das seit der Neubestätigung Putins als Autokrat aller ReuÃen zur aktiven Machtpolitik im Stil des »great game« zurückfindet, präsentiert sich die Niederlage der westlichen Allianz in den Gebirgen Afghanistans als Genugtuung und als Sorge zugleich. Es hat dem russischen Nationalstolz zweifellos wohlgetan zu beobachten, daà die Amerikaner am Hindukusch noch gründlicher gescheitert sind als seinerzeit die Sowjetarmee. Jetzt hat die Unberechenbarkeit der pakistanischen Transitrouten dazu geführt, daà das US-Kommando bei seiner umfangreichen Evakuierungsaktion auf das Staatsgebiet, auf den Luftraum und die Schienenstränge der GUS-Staaten und vor allem auch RuÃlands angewiesen ist. Das gibt dem Kreml Mittel in die Hand, diplomatischen Druck auf Washington auszuüben.
Andererseits muà Putin jedoch befürchten, daà die ehemals sowjetischen Teilrepubliken Zentralasiens in den Sog einer religiösen Radikalisierung geraten. Die früheren Sekretäre der KPdSU hatten sich dort am Tag der Unabhängigkeit unverzüglich in orientalische Despoten verwandelt, die die Ausübung des Islam zwar förderten, aber unter die strikte Aufsicht ihrer Behörden stellten. In diesen Duodezstaaten gärt es bereits. Die kommunistischen Kader von einst stoÃen vor allem im usbekischen Fergana-Tal, aber auch in Kirgistan und Tadschikistan auf den Widerstand entschlossener Jihadisten, die vom Entstehen eines islamischen Gottesstaates wahhabitischer oder salafistischer Prägung schwärmen. Darüber hinaus muà Moskau das Ãbergreifen dieser exaltierten Stimmung auf das eigentliche Gebiet der verbliebenen Russischen Föderation befürchten.
In meinen frühen Schuljahren schürten die Propagandisten Joseph Goebbelsâ die Furcht der Deutschen vor den erdrückenÂden Menschenmassen des »minderwertigen« slawischen Ostens. Heute herrscht Wladimir Putin immer noch über ein immenses Territorium zwischen Smolensk und Wladiwostok, das jedoch mit nur 140 Millionen Staatsbürgern vor allem jenseits des Ural extrem dünn besiedelt ist. Infolge der schwindenden Geburtenrate findet eine zusätzliche Schrumpfung statt. Die überwiegende Zahl der Russen bekennt sich zwar in einer überraschenden religiösen Rückbesinnung zur byzantinisch-orthodoxen Kirche, und Patriarch Kyrill I. hat sich als Garant dieser nationalen Wiedergeburt an die Seite des Staatschefs gestellt. Aber daneben hat sich die beachtliche Zahl von 20 bis 25 Millionen Muselmanen seit den Tatarenstürmen erhalten, und auch sie könnten graduell von einem konfessionellen Erwachen erfaÃt werden. Da geht es nicht nur um die aufsässigen Kaukasusrepubliken, deren Unabhängigkeitswille, zumal in Tschetschenien, durch die brutale Militäraktion Putins unterdrückt werden konnte. Bemerkenswert ist dort die Person des selbstherrlichen Präsidenten Kadyrow, der in Grosny heute regiert und sich vom ehemaligen Widerstandskämpfer zum Vasallen des Kreml gewandelt zu haben scheint. Neuerdings beruft sich dieser Gewaltmensch, dieser »Haji Murad« unserer Tage, jedoch in seiner Autonomen Republik auf die Vorschriften der Scharia. Im benachbarten Dagestan finden täglich Anschläge gegen die Kollaborateure Moskaus statt. In Tatarstan an der Mittleren Wolga â also im Herzen des europäischen RuÃland â bestand noch vor wenigen Jahren bei der slawisch vermischten muslimischen Einwohnerschaft keinerlei AnlaÃ, das Aufkommen einer islamistischen Bewegung zu befürchten. Doch seitdem wird in Kazan der noch von Iwan dem Schrecklichen erbaute Kreml durch die steilen Minaretts und die blaugewölbte Kuppel der Kul-Scharif-Moschee überragt. Im Jahr 2012 wurden religiös
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