Die Welt aus den Fugen
Märtyrertod entschlossene Truppe, die »Jeish-el-Mehdi«, befehligt. Nicht immer haben sich ja die Schiiten von ihren Unterdrückern peinigen und strangulieren lassen. Im Jahr 1920 waren es die Krieger der »Partei Alis«, die zum groÃen Aufstand gegen die britische Mandatsmacht antraten. Im Jahr 1991, als der US-Präsident George Bush senior die Schiiten zur Rebellion gegen Saddam Hussein aufrief, hatten sie sich bereits weiter Teile des Zweistromlandes bemächtigt, bevor das US-Kommando dem Diktator von Bagdad freie Hand lieÃ, ihm erlaubte, seine Kampfhubschrauber und seine intakte Republikanergarde einzusetzen. Die kaum bewaffneten schiitischen Milizen waren mit abscheulichem Zynismus ihren Henkern ausgeliefert worden.
Ein Qadi aus Tunis
Es gibt wohl neben Bagdad keinen Ort in der arabischen Welt, wo die Menschen mit vergleichbar bitterem Spott auf jene pathetische und miÃratene Bewegung blicken, die man im Westen als »Arabischen Frühling« gefeiert hat. Der Irak, so sagen die Leute am Tigris, hat seinen »Arabischen Frühling« schon im Jahr 2003 hinter sich gebracht, als die Amerikaner und zahllose europäische Narren meinten, die US Army hätte durch den Sturz des Diktators Saddam Hussein den Weg freigeschossen für Menschenrechte und Demokratie. Der symbolische Höhepunkt dieser angeblichen Volkserhebung war die Zertrümmerung der gigantischen Statuen des Tyrannen, dessen abgetrenntes Haupt von einer johlenden Menge mit FüÃen getreten und â deutlicher ging es nicht â mit den »stars and stripes« der US-Flagge bedeckt wurde.
Was sich sieben Jahre später in Tunis ereignete, war von einer ganz anderen Qualität. Sicher waren es nicht ausländische Kräfte, die die Flucht des verhaÃten Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali erzwangen, sondern eine spontane Volkserhebung, mit der weder die Spitzeldienste des tunesischen Zwangsregimes noch die angeblich allwissenden Spionagedienste des Westens â seien es nun Amerikaner, Franzosen oder Israeli â gerechnet hatten. Das totale Versagen von CIA, DGSE und Mossad auf den diversen Schauplätzen der »Arabellion«, wie die kuriose Wortbildung lautet, stellt der elektronischen Perfektion dieser Abhör- und Ãberwachungsexperten ein erbärmliches Zeugnis aus.
Da hatte sich also ein unbedarfter Gemüsehändler in dem abgelegenen, unansehnlichen Städtchen Sidi Bouzid selbst in Brand gesteckt und durch diese Selbstaufopferung das ganze Land mit einem Schlag in Entrüstung und Tumult versetzt. Dabei war Mohammed Bouazizi, so hieà der Märtyrer, ein Unbekannter. Noch heute wird darüber gerätselt, ob er an den erdrückenden Lebensbedingungen und den Schikanen der Polizei verzweifelt oder einem Liebeskummer erlegen war. Als muslimischer Akt der Revolte kann dieser Vorgang schwerlich bezeichnet werden, denn der Koran verbietet den Selbstmord, es sei denn, er geschehe, um Feinde des Islam in den eigenen Tod mitzureiÃen.
Der weitere Ablauf der Ereignisse ist bekannt. Im Westen war den wenigsten aufgefallen, daà der Ruf nach Freiheit im wesentlichen auf die Hauptstadt und dort auf die tunesischen »Champs Ãlysées«, auf die Avenue Bourguiba, begrenzt blieb. Wenn der Staatsstreich so erstaunlich schnell gelang und den Präsidenten Ben Ali mitsamt seines korrupten Familienclans zur Flucht zwang, so lag das vor allem an dem ÃberdruÃ, den die Selbstherrlichkeit des Despoten auch bei den tunesischen Offizieren auslöste und sie mit den Revolutionären symÂÂÂpathisieren lieÃ. Wo fand Ben Ali Zuflucht und Asyl? Im Königreich Saudi-Arabien. Diese Solidarität der konservativen, reakÂtionärsten ReÂgime gibt Aufschluà über die seltsamen Koalitionen, in die sich der Westen eingelassen und die er gutgeheiÃen hatte.
Zur Zeit meines letzten Aufenthalts in Tunis war der Wahlkampf voll im Gange. Etwa hundert Parteien hatten ihre Kandidaten aufgestellt. Die begeisterten Jugendlichen, die â auf elektronische Kommunikationsmittel zurückgreifend â ein paar Wochen lang geglaubt hatten, sie hätten ihr nordafrikanisches Küstenland, das wie kein anderes durch die Akkulturation an Europa, besser gesagt an Frankreich, den Vorstellungen von Liberalität und Modernismus am nächsten kam, in einen freiheitlichen Staat verwandelt, wurden schnell eines Besseren belehrt. Schon im
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