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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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hegen. Aber zwischen den streng sunnitischen, der hanbalitischen Rechtsschule oder »Madhhab« anhängenden Institutionen, Stiftungen und »Awqaf« des Königreichs und den Attentätern, die Osama Bin Laden gefolgt waren, dürfte eine profunde Affinität bestanden haben. Die Salafiya-Bewegung, der wir selbst in Europa ausgesetzt sind und deren Haßprediger im gesamten Dar-ul-Islam eine mörderische Intoleranz gegenüber allen Ungläubigen und den gemäßigten Koran-Kommentatoren anheizen, wird heute zunehmend dem Kampfgeist der sektiererischen Beduinenstämme des Nedjd gleichgesetzt. Diese hatten schon im 18. Jahrhundert im Verbund mit den Stammesfürsten des Hauses El Saud die schiitischen Ketzer und Abtrünnigen als »Gottesfeinde« verfolgt und deren Heiligtümer von Nejef und Kerbela verwüstet.
    Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten – ungeachtet der krassen Intoleranz und der Subversionsbestrebungen der Wahhabiten zwischen Marokko und Indonesien – das saudische Königreich in den Rang eines Vorzugsverbündeten erhoben. Diese enge Verflechtung entstand bereits zu Zeiten des imponierenden Gründers des »Mamlakat«, Abdel Aziz Ibn Saud, auf dessen Territorien die reichsten Erdölvorkommen der Welt erschlossen wurden. Die Bindung Washingtons an die sunnitische Vormacht der arabischen Halbinsel hat sich zum militärischen Bündnis entwickelt, das der Realpolitik Rechnung tragen und extrem gewinnbringend sein mag, aber mit abgrundtiefer Heuchelei belastet ist. »Sleeping with the devil – mit dem Teufel schlafen« hat der ehemalige CIA-Agent Robert Baer diese Assoziation genannt, die den Regierenden von Er Riad die Vorherrschaft am Persischen Golf und die Abwehr jeglichen iranischen Einflusses in dieser Region zusichern soll.
    Als General David Petraeus, der heutige Chef der CIA, zum Oberbefehlshaber der amerikanischen Streitkräfte im Irak ernannt wurde, war man sich im Pentagon längst bewußt, daß die Machtergreifung der Schiiten im Irak die Schwächung Saudi-Arabiens und eine Präponderanz der Mullahkratie von Teheran zur Folge hätte. Von nun an unterstützte Petraeus die sunnitische Minderheit des Irak, einigte sich mit den Schuyukh der großen Stämme und den ehemaligen Kadern der Armee Saddam Husseins, die fast alle Sunniten waren, auf die Einstellung der gegenseitigen Feindseligkeiten und auf einen politischen Frontwechsel. Im Zeichen der sogenannten »Sahwa« kam es zur Aufstellung sunnitischer Kampfverbände als Gegengewicht zu den schiitischen Milizen der Badr-Brigaden und der »Armee des Mehdi«. Die Sunniten und sogar die Killer von El Qaida richteten ihre mörderischen Überfälle und Bombenanschläge nur noch in Ausnahmefällen gegen amerikanische Soldaten. Ihr vornehmliches Ziel waren bewaffnete oder unbewaffnete Schiiten, zumal jene zahllosen Pilgergruppen, die aus Iran an die Gräber der heiligen Imame Ali und Hussein wallfahrten.
    Dieser schleichende Konfessionskrieg war zum Zeitpunkt der Räumung der letzten amerikanischen Truppen vorübergehend abgeklungen, aber die individuellen Gewaltakte hatten nie aufgehört und steigerten sich unlängst wieder zu Massenexekutionen.
    Im März 2012 war ich auf Einladung der hohen schiitischen Geistlichkeit nach Nejef, Kerbela, Kufa und Bagdad gereist. Die mir wohlgesonnenen Ayatollahs ließen mich und eine kleine Begleitergruppe durch eine ganze Riege von Leibwächtern schützen. Unsere Fahrten im Herzland Mesopotamiens waren durch Panzerfahrzeuge abgeschirmt. Ein Schiite, so erfuhr ich, der in die zutiefst sunnitische Provinz Anbar reist und aufgrund seiner südirakischen Mundart als Angehöriger der »Partei Alis« erkannt wird, käme wohl mit dem Leben nicht davon. Überrascht war ich von der Passivität der höchsten Würdenträger und Theologen der Hauza von Nejef, die sich immer noch weigern, mit einer zwingenden Fatwa ihre fromme Gefolgschaft zum Schlag gegen die sunnitischen Jihadisten, die aus Saudi-Arabien finanziert und bewaffnet werden, aufzurufen.
    Dieser Quietismus der hochbetagten obersten Kleriker wird von den armen Leuten in Sadr-City und von der ungeduldigen Masse kampfbereiter schiitischer Jugendlicher allmählich in Frage gestellt, zumal der dynamische junge Prediger Muqtada el-Sadr über eine starke Fraktion im Parlament verfügt und insgeheim eine zum

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