Die Welt aus den Fugen
zu den Dominikanern des »Ordo praeÂÂdicatorum« im südlichen Frankreich gelangt sind. Dieser kulturelle Transfer hat entscheidend zur theologischen ErneuÂerung der abendländischen Christenheit beigetragen, der der heilige Thomas von Aquin, »doctor angelicus« genannt, in seiÂnem epochalen Werk der »Summa theologica« unter Berufung auf Aristoteles zum Durchbruch verhalf.
Nachträglich wundert man sich darüber, wie eine biologische These dieses tunesischen Qadis, die geradezu darwiÂnistisch klingt, durch die sunnitischen Koranlehrer geduldet werden konnte. »Die Affen«, so schreibt er, »verfügen über eine Schläue und über Wahrnehmungen, die denen des Menschen, des einzigen mit der Fähigkeit zum Denken und zur Ãberlegung begabten Lebewesens, nicht unähnlich sind. Diese Möglichkeit der Evolution auf jedem Niveau der Schöpfung stellt einen Vorgang dar, den wir als âºcontinuumâ¹ der Schöpfung bezeichnen.«
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Die Revolte auf der Avenue Bourguiba von Tunis hätte sich als Randereignis, als »fait divers« erwiesen, wenn der Funke der Auflehnung nicht auf den Tahrir-Platz, den Platz der Befreiung in Kairo, übergesprungen wäre. Um eine solche Ausweitung zu erklären, könnte man auf einen historischen Präzedenzfall zurückgreifen. Im 12. Jahrhundert hatte sich des gesamten Maghreb ein Zustand religiöser Gärung bemächtigt. Das Schisma zwischen Sunniten und Schiiten hatte sich vor allem bei den Berbern des Atlas zur mystischen Exaltation gesteigert. Es bildete sich eine mächtige Stammeskoalition, die den Anspruch Ali Ibn Abi Talibs, des Schwiegersohns und Vetters Mohammeds, der einzig berufene Nachfolger des Propheten zu sein, anerkannte. Im Unterschied zu den sogenannten »Zwölfer-Schiiten« des heutigen Iran lieÃen sie nur sieben unmittelbare Erben des Religionsstifters gelten. Unter Berufung auf Fatima, die Tochter des Propheten, bezeichnete sich die neue Dynastie als Fatimiden. Aus ihrem geistlichen Zentrum im tunesischen Kairouan schwärmten sie in Richtung auf das Niltal aus, wo das schiitische Kalifat der Fatimiden die Stadt Kairo gründete und den Grundstein legte zur berühmtesten theologischen Universität des Islam, der »El Azhar«.
Nach zwei Jahrhunderten blutiger Wirren, die sich bis zum Persischen Golf, bis zur »Arabia felix« von Jemen ausdehnten und sogar zur Schändung des Meteoritensteins der heiligen Kaaba führten, brach das Kalifat von Kairo jäh in sich zusammen. Der sunnitische Ayyubiden-Sultan Saladin, der Eroberer von Jerusalem, holte zum vernichtenden Schlag gegen diesen ismaelitischen Glaubenszweig des Islam aus. Es wäre verwegen, diese fernen religiösen Kalifatskämpfe in unmittelbaren Zusammenhang mit den Wirren zu bringen, die das heutige Ãgypten erschüttern. Aber die westlichen Beobachter, die mit voreiligem Jubel in Tunesien die Verdrängung des Diktators Ben Ali als Bekehrung zur westlichen Demokratie feierten, sahen in der Ausweitung der »Arabellion« auf die Menschenmassen des Niltals mehr als eine Verwerfung der Militärdiktatur des Präsidenten Mubarak durch die jugendlichen Massen Kairos und Alexandrias. Sie glaubten, Zeugen und Akteure einer historischen Abkehr der wichtigsten arabischen Nation vom erstarrten Obskurantismus der Vergangenheit zu sein und ihre Hinwendung zur säkularen Erleuchtung der Aufklärung zu erleben.
Was bisher unmöglich schien, hatte sich auf dem Tahrir-Platz ereignet. Ein Zwangsregime, das sich auf ein allmächtiges Sicherheitssystem und eine machtbesessene Armee stützte, hatte offenbar dem unbewaffneten Aufruhr freiheitlicher Idealisten weichen müssen. Deren erfolgreiche Verschwörung war durch die Errungenschaften modernster Elektronik â durch Facebook, Twitter und Internet â ermöglicht worden. Von nun an, so glaubten die Utopisten der Computegesellschaft, würde man sämtliche Tyrannen und Despoten mit Hilfe dieser konspirativen Kontaktnahme anonymer Regimegegner und der elektronisch mobilisierten »Thouwar« aus den Angeln stemmen können.
Ich will hier nur ein paar Aspekte dieser neuen Form des Ringens um die Macht erwähnen und auch relativieren. Der gröÃte Irrtum bestand in der Ãberschätzung dieser umstürzlerischen Zufallsgemeinschaft, die weder über ein Programm, eine klare Ideologie noch eine
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