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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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charismatische Führungspersönlichkeit verfügte. Die wackeren Blogger von Kairo und Tunis gehörten eben doch einer intellektuellen Minderheit, dem gehobenen Mittelstand oder einer relativ privilegierten Klasse von Jugendlichen an. Der revolutionäre Aufbruch blieb im wesentlichen auf die beiden Metropolen Kairo und Alexandria beschränkt. Er hatte sich nicht in den Provinzstädten und unzähligen Fellachendörfern des Niltals manifestiert. Für Orientkenner wirkte es wie ein Wunder, daß die gewaltige Ansammlung von Demonstranten nicht den Kampfruf des Islam »Allahu akbar!« anstimmte und sich in den ersten Wochen hütete, amerikanische und israelische Fahnen zu verbrennen. Nein, dieses Mal ging es offenbar – den säkularen Parolen zufolge – um »Hurriya«, um Freiheit und um Demokratie sowie um die Entmachtung des Präsi­denten Mubarak, der seit vierzig Jahren wie ein Pharao regierte.
    Die jungen Leute, die sich den Schußwaffen und den Schlagstöcken der Polizei aussetzten, hatten damit gerechnet, daß die ägyptische Armee mit ihnen sympathisieren würde, zumal die jüngeren Generale die physische Erschlaffung Mubaraks wahrgenommen hatten und sich der Absicht des Diktators, seinen Sohn Gamal als Nachfolger zu berufen, vehement entgegenstellten. Ließ die Heeresführung den Tumult von Tahrir nur scheinbar wohlwollend gewähren, um den längst fälligen Personenwechsel an der Spitze des Staates ohne eigene Kompromittierung vornehmen zu können? Wie sehr manche Korrespondenten vor Ort mit Blindheit geschlagen waren, erwies sich an der grotesk anmutenden »Fantasia« unbewaffneter Kamelreiter. In Wirklichkeit handelte es sich bei diesem pittoresken Auftritt um die Empörung jener harmlosen Touristen-Guides im Umkreis der Pyramiden, die durch die zunehmende Unsicherheit ihre Kunden, die ausländischen Besucher, und damit ihre Verdienstquelle eingebüßt hatten. Diese einfachen Männer wußten mit dem Ruf »Hurriya« wenig anzufangen und wurden vermutlich durch finanzielle Zuschüsse der »Mukhabarat« zu ihrer Kavallerieattacke ermutigt.
    Die Parlamentswahlen, die ohne allzu grobe Verfälschung abgehalten wurden, beraubten die Eiferer von Tahrir ihrer voreiligen Illusionen. Wie zu erwarten war, erhielten die islamistischen Gruppierungen, die Muslimbrüder, die sich bisher behutsam zurückgehalten hatten, sowie die aus Saudi-Arabien subventionierten Salafisten der Bewegung »Nur« die absolute Mehrheit der Parlamentssitze. Die liberalen und säkularen Splitterparteien waren zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Welche geheimen Absprachen zwischen den beiden wirklich repräsentativen Kräften des Landes, den »Ikhwan« oder Muslimbrüdern auf der einen, dem militärischen Oberkommando auf der anderen Seite, getroffen wurden, wird später einmal enthüllt werden. An die Stelle des inhaftierten Präsidenten Mubarak war im militärischen Übergangsrat sein früherer Verteidigungsminister und Generalstabschef General Tantawi getreten.
    Die Sicherheitsorgane, die von der Bevölkerung für die Grausamkeit und die Willkür des gestürzten Regimes verantwortlich gemacht wurden, hatten – wohl auf höhere Weisung – ihre Uniformen abgelegt und ihre Aktivität eingestellt. Dazu gesellte sich jedoch – neben den rapide ansteigenden Preisen für die Grundnahrungsmittel – die Entfesselung einer ganz gewöhnlichen Kriminalität, der sich die Bevölkerung nunmehr schutzlos ausgeliefert sah. Not und Unsicherheit, so vermerkten die einfachen Kairoten, hatten sich als Folge des kühnen Freiheitsrausches von Tahrir eingestellt. Auf dem riesigen Platz vor dem Ägyptischen Museum tauchten zwielichtige Elemente auf. Für die jungen Feministinnen, die von der Revolution eine längst fällige Emanzipation erhofft hatten, war es von nun an nicht mehr ratsam, sich unter die Menge zu begeben, wenn sie nicht groben sexuellen Belästigungen ausgesetzt sein wollten.
    Da war es kein Wunder, daß bei den Wahlen eines neuen Staatspräsidenten, dessen Kompetenzen in Absenz einer gültigen Verfassung in keiner Weise definiert waren, der relativ unbekannte Funktionär der Muslimbrüder Mohammed el-Mursi nur mit einem kleinen Vorsprung einen General überrundete, der unter Mubarak als letzter Premierminister amtiert hatte. Die hohen

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