Die Welt aus den Fugen
Militärs waren nicht gewillt, ihre exorbitanten Privilegien und Machtbefugnisse preiszugeben. Sie kassierten weiterhin die gewaltigen Summen, die ihnen aus Washington zuflossen, um sie zur Respektierung des von Sadat geschlossenen Friedensvertrags mit Israel anzuhalten. Der neue Staatschef Mohammed el-Mursi, ein freundlicher, bärtiger Mann mit beachtlicher Leibesfülle, der dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Beck ein wenig ähnelt, erwies sich plötzlich als weit listiger und selbstbewuÃter, als Freund und Feind ihm zugetraut hatten. Nachdem er wohl eine geheime Absprache mit ehrgeizigen Offizieren getroffen hatte, die es leid waren, von den ermatteten Veteranen des Jom-Kippur-Krieges aus dem Jahr 1973 kommandiert zu werden, setzte er völlig überraschend Marschall Tantawi und die ihm ergebene Clique alter Männer ab und berief den relativ jungen General Abdelfatah el-Sissi zum Verteidigungsminister. Plötzlich ging in Kairo wieder der Geist des Oberst Gamal Abdel Nasser und jener »freien Offiziere« um, die 1952 die Monarchie abgeschafft und die Republik ausgerufen hatten.
Wenige Monate vor den Ãberraschungen des »Arabischen Frühlings« hatte ich mich in Kairo und an der Grenze zum palästinensischen Gazastreifen aufgehalten. Nur zwei junge Dozenten der Hauptstadt hatten damals die explosive Unruhe erwähnt, die unter ihren Studenten rumorte. Die westlichen Experten des Niltals hingegen, selbst wenn sie Jahrzehnte in Kairo verbracht hatten und perfekt Arabisch sprachen, wiesen jeden Gedanken an einen bevorstehenden Umsturz kategorisch von sich. Erstaunlich war auch die Tatsache, daà die omnipräsenten ägyptischen Geheimdienste sowie die Spionage-agenturen aus aller Welt die zur Lawine angeschwollene Kommunikation des Facebook-Komplotts nicht wahrgenommen hatten, obwohl sie die Aktivisten dieses elektronischen Spiels sehr schnell hätten identifizieren können. Es ist ein Paradoxon unserer Zeit, daà die Nachrichtendienste mit ihren technischen Mitteln der totalen Ãberwachung jedes Gespräch belauschen, jede Personenbewegung fixieren können, aber in entscheidenden Fragen mit Blindheit geschlagen sind.
Ich erinnere mich persönlich daran, wie sämtliche Intelligence-Dienste â seien sie amerikanisch, sowjetisch oder israelisch â den unaufhaltsamen Sieg der Khomeini-Revolution des Iran nicht wahrhaben wollten. Es bleibt mir heute noch ein Rätsel, wie der hochqualifizierte Mossad am Vorabend des Jom-Kippur-Krieges die Massierungen der ägyptischen Angriffsdivisionen in der völlig ungeschützten Wüste westlich des Suezkanals und der Bar-Lew-Linie ignorieren konnte, wie er auch den Funkverkehr und die intensiven Kommunikationen offenbar nicht wahrnahm, die zwischen den Generalstäben von Kairo und Damaskus die perfekt getimte Koordination der Aggression beider arabischen Armeen ermöglichte. Immer wieder sündigen die westlichen »spooks« durch Unterschätzung ihrer Gegner und die unzureichende Entwicklung ihrer »human intelligence«. Ãhnliches â wenn auch in bescheidenem Ausmaàâ lieÃe sich von der als »Ãberflugverbot« getarnten Militärintervention der NATO gegen Oberst Qadhafi von Libyen sagen, dessen Widerstandskraft sträflich unterbewertet wurde.
Die Ruinen von Timbuktu
Im Frühjahr 2011 wurden aus Libyen die ersten Anzeichen einer Aufstandsbewegung gegen die Zwangsherrschaft Muammar el-Qadhafis gemeldet. Als im östlichen Landesteil, in der Cyrenaika, ein paar Rotten eilig aufgestellter Milizen die Polizei des Diktators in der dortigen Provinzhauptstadt Bengasi überwältigten, kam es im Weltsicherheitsrat zu dem MehrheitsbeschluÃ, ein Flugverbot zu verhängen, um der Luftwaffe der »Jamahiriya« jedes Eingreifen in die Unruhen zu verwehren. Die Resolution war so restriktiv abgefaÃt, daà RuÃland und China sich der Stimme enthielten, getreu ihrem offiziellen Grundsatz der Nichteinmischung in ausländische Querelen, den diese beiden Mächte recht selektiv zu handhaben pflegen. GröÃte Verblüffung und Entrüstung löste die Entscheidung Deutschlands aus, das sich als einziges Land Europas und der Atlantischen Allianz beim Votum in New York, statt sich auf die Seite der westlichen Allianz zu schlagen, der Abstinenz Moskaus und Pekings anschloÃ.
Es handelte sich dabei vermutlich um die gröÃte
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