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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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einzugreifen.
    So wurde der Hafen Misrata, dessen Einwohner sich mit großer Bravour der Eroberung durch die Qadhafi-Armee erwehrten, die aber nur überleben konnten, weil ihre in ein Trümmerfeld verwandelte Stadt über See von den Alliierten versorgt wurde, zum eigentlichen Schwerpunkt der Kämpfe. In Bengasi wurde bereits das Ringen um die politische Nachfolge des Tyrannen ausgetragen. Der Vormarsch der Befreiungsarmee zog sich in die Länge, kam vielerorts nicht vom Fleck. In Paris und in London begann man mit Sorge auf das libysche Engagement zu blicken. Die Charles de Gaulle mußte nach wenigen Wochen zur technischen Überholung nach Toulon zurückbeordert werden. Den Bomberstaffeln der beiden vorgepreschten Entente-Mächte gingen die Bomben und die Munition aus. Schon erinnerten einige Pessimisten an das britisch-französische Vorgehen gegen Gamal Abdel Nasser im Jahr 1956, als die geplante Unterwerfung Ägyptens nach dem ersten Fallschirmeinsatz von Port Said abgebrochen werden mußte, weil Moskau und sogar Wa­shington sich dieser Eigenmächtigkeit widersetzten. In Libyen offenbarte sich, daß Briten und Franzosen zwar über eine vorzüglich ausgebildete Air Force verfügten, daß das begrenzte Rüstungsbudget der beiden Verbündeten jedoch bei jeder nachhaltigen Militäraktion aufs schwerste belastet und überstrapaziert würde. Das gleiche dürfte für sämtliche europäischen Staaten gelten, die sich unter den Fittichen der übermächtigen USA zusammengeschlossen haben.
    Am Ende – dank amerikanischer Belieferung – brach der Widerstand der Qadhafi-Getreuen zusammen, die vor allem in der Hafenstadt Sirte, im Kerngebiet des Qadhafa-Stammes, ein bemerkenswertes Ausharrungsvermögen bewiesen hatten. Der Diktator, der dorthin zu seinen Getreuen geflüchtet war, wurde bei einem Ausbruchversuch nach Süden durch französische Jäger unter Beschuß genommen. Qadhafi selbst, der in einer Kanalröhre Deckung gesucht hatte, wurde von entfesselten Freischärlern nach grauenhaften Torturen getötet und sein Leichnam der verschreckten Öffentlichkeit zur Besichtigung ausgestellt. Ganz offensichtlich war es der Atlantischen Allianz von Anfang an nicht nur – wie vor der UNO behauptet – um den Schutz der bedrohten Zivilbevölkerung der Cyrenaika gegangen, sondern um einen radikalen Regimewechsel in Tripolis.
    Aus Rücksicht auf die Weltöffentlichkeit hatten sich Russen und Chinesen bei der Abstimmung im Weltsicherheitsrat der Stimme enthalten. Von einer militärischen Operation großen Stils und von einer politischen Neugestaltung Libyens war ja nicht die Rede gewesen. Moskau und Peking fühlten sich ȟber den Tisch gezogen«. Noch einmal würden sie sich nicht übertölpeln lassen, wie sich ein paar Monate später am Beispiel Syriens herausstellte. Die Auswirkungen der libyschen Wirren werden erst mit größerem Abstand zu erkennen sein. Zwar wird in den westlichen Medien aufgrund einer überstürzten Parlamentswahl, bei der die Formation des ehemaligen Justizministers Qadhafis und späteren Chefs der Übergangsregierung eine höchst dubiose Mehrheit davontrug, schon wieder von einem Sieg der Demokratie schwadroniert. Die Wirklichkeit sieht anders aus.
    Allzuviel dürfte sich nicht verändert haben an den chaotischen Zuständen, die im Umkreis von Leptis Magna vorherrschten, als ich im Oktober 2011 mit dem Auto die Fahrt von der zertrümmerten Märtyrerstadt Misrata über Tripolis zur tunesischen Grenze antrat. Etwa zwanzig Mal wurden wir von bewaffneten Partisanen angehalten. Es waren wilde Gestalten, die mit ihren Kalaschnikows wie Wegelagerer wirkten, uns aber dank einer einflußreichen Begleitperson mit wachsamer Freundlichkeit begegneten. Wie viele dieser »Kataeb« oder Kampfgruppen es insgesamt gibt, hat niemand festgestellt. Niemals wußten wir, welchem Stamm und welcher »Katiba« sie angehörten. Da gibt es eine geringe Anzahl von großen Föderationen und eine Hundertschaft von Clans, deren enger Zusammenhalt von Ibn Khaldun bereits als »Asabiya« bezeichnet wurde, als eine gebieterische familiäre Verflechtung und angeborener Sippengeist.
    An den Straßensperren lösten sich die unterschiedlichsten Schattierungen ab von den Anhängern diverser Sufi- oder Derwischorden – in Nordafrika »Zawiya«

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