Die Welt aus den Fugen
die Gräber heiliger Sufi-Mystiker, der Marabu, die ein Kennzeichen des maghrebinisch-afrikanischen Islam sind, zerstört. Sie verwüsteten auch jene wertvollen Bibliotheken und Schriftsammlungen, die einst die Pilger angezogen hatten. Die barbarischen Bilderstürmer von heute haben sich vielleicht am Beispiel der afghanischen Taleban orientiert, die die riesigen Buddhastatuen von Bamiyan, diese grandiose Verschmelzung hellenistischer Kunst mit asiatischer Frömmigkeit, durch Sprengung vernichteten. Die Ausweitung der religiösen Raserei zieht bereits weite Kreise. Wenn die Republik Tschad, deren Ethnien mit den Stämmen der benachbarten Sudanregion Darfur eng verwandt sind, noch überlebt, so verdankt sie das im wesentlichen der Präsenz von französischen Interventionseinheiten. Der gespaltene ehemals anglo-ägyptische Sudan wird ein hoffnungsloser Herd der Unruhe und der religiösen Spannungen bleiben. Der künstliche Staat Burkina Faso steht auf schwachen FüÃen.
Vor allem aber ist der Koloà Nigeria mit seinen 200 Millionen Einwohnern von einer Welle der Gewalt und des Terrors erfaÃt worden. Die nördliche Hälfte dieser Föderation mit ihren muslimischen Emiraten und Sultanaten hat aus eigener Verfügung die koranische Gesetzgebung eingeführt. Die Behörden in Abuja sehen sich dem grausamen Zugriff einer extremistischen Sekte, »Boko Haram« genannt, ausgesetzt, die sich die Ausmerzung eines jeden westlichen Einflusses zum Ziel gesetzt hat.
Unmittelbar berührt von dem sich abzeichnenden Tohuwabohu in der ganzen Sahelzone fühlt sich die Republik Algerien, deren südliche Ausläufer bis in die Krisenzone hineinreichen. Die dortigen Jihadisten operieren am Rande der Sahara und in Mauretanien. Diese relativ kleinen Gruppen, die sich den ominösen Namen »El Qaida des islamischen Maghreb« zugelegt haben, erregten bisher durch Geiselnahmen Aufsehen, aber ihre Attentate dehnen sich nach Norden aus bis in die Umgebung von Algier, Oran und Constantine. Die hohen Militärs, die Algerien seit seiner staatlichen Unabhängigkeit unter ihre Gewalt zwingen, sind sich der Gefahr bewuÃt und planen bereits militärische MaÃnahmen gegen die »Ansar-ed-Din« von Mali, wobei sie in aller Diskretion eine Abstimmung mit französischen Spezialeinheiten getroffen haben sollen.
Im Gespräch mit flüchtigen Bekannten findet man eine Erklärung für das geringe Echo, das die Revolten von Tunis, Kairo und Tripolis in Algerien gefunden haben. Alle sprechen noch von dem Schrecken, der ihnen in den Gliedern sitzt, seit in den neunziger Jahren der Bürgerkrieg zwischen der regulären Armee und den Mujahidin der sogenannten »Forces islamiques armées« zu grauenvollen Gemetzeln und der Ermordung von schätzungsweise 200000 Menschen führte. Auch in Algerien hatte alles mit einem demokratischen Auftakt begonnen, als die Generalskamarilla in Verkennung der wahren Stimmung in der breiten Bevölkerung freie Parlamentswahlen und die Entfaltung der »Islamischen Heilsfront« zulieÃ. Diese »Front Islamique du Salut« hatte ohne jede Gewaltanwendung und dank einer groÃzügigen Sozialfürsorge breite Popularität gewonnen. Nach Auszählen der Stimmen hätte die FIS über eine solide Mehrheit im Parlament verfügt, wenn die machtgewohnten hohen Militärs sich dem Volksentscheid nicht entgegengestellt hätten.
Die Armee holte zu einem brutalen Putsch aus und verhaftete die angesehensten Führungsgestalten der Heilsfront. Aus dem Widerstand gegen die militärische Willkür erwuchs der erbitterte bewaffnete Widerstand der GIA, der erst nach achtjährigem Bürgerkrieg weitgehend neutralisiert war. Die Erinnerung an das Grauen dieser Jahre bleibt lebendig, und am Ende schien sich sogar die versöhnliche Haltung des Staatspräsidenten Bouteflika, eines Veteranen des Befreiungskampfes gegen Frankreich, auszuzahlen. Beim letzten Urnengang wurde eine fragwürdige Mehrheit regimeergebener Abgeordneter in die Kammer berufen. Doch diese Beruhigung ist trügerisch, wird immer wieder durch gezielte Anschläge in Frage gestellt. Bei den Jugendlichen, die zur Hälfte ohne Arbeit sind, brodelt es. Niemand in Algier hat vergessen, daà die sonst so tugendhaften, auf Demokratie bedachten Regierungen der »freien Welt« den Massenmord im Atlas ignoriert und die Verhinderung einer islamischen
Weitere Kostenlose Bücher