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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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die Brüsseler Behörden können nur mit Bewunderung und ein wenig Neid auf die Konföderation der Schweizer Kantone blicken. Diese haben ihnen vorbildlich vorgeführt, daß am Ende eines schwierigen Einigungsprozesses eine staatliche Harmonie unterschiedlicher Sprachgruppen und Konfessionen gedeihen kann. Aber wo stände die Confoederatio Helvetica, wenn die Gründungsväter des Rütlischwurs versucht hätten, so unvereinbare Gebilde wie Litauen und Malta unter einen gemeinsamen Hut zu bringen?
    Die Katastrophe von Kundus
    28. 12. 2009
    Das dichte Lügengewebe, in das sich deutsche Politiker verstrickt hatten, ist mit den Bombenanschlägen von Kundus zertrümmert worden. In Afghanistan hat für Berlin endlich die Stunde der Wahrheit geschlagen. Bisher hatte sich die Regierung Merkel hartnäckig davor gedrückt, den Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch als »Krieg« zu bezeichnen. Ursprünglich mag es ja tatsächlich ein Stabilisierungsauftrag gewesen sein, der den sogenannten ISAF-Streitkräften von den Vereinten Nationen erteilt wurde, um bei der afghanischen Bevölkerung ein Gefühl relativer Sicherheit aufkommen zu lassen.
    Das deutsche Kontingent befand sich gegenüber den Amerikanern, Briten und Holländern, die im Siedlungsgebiet des Staatsvolkes der Paschtunen vor allem im Süden und im Osten des Landes das Schwergewicht der Kämpfe zu tragen hatten, in einer relativ privilegierten Position. Die nördlichen Provinzen boten ein günstigeres Terrain. Dort siedelt mehrheitlich das Volk der Tadschiken, das sich im Schicksalsjahr 2001 der proamerikanischen Nordallianz angeschlossen hatte, weil es mit den Paschtunen und den Taleban alte Fehden auszutragen hatte.
    Aber seither sind acht Jahre vergangen. Die Garnisonen der Bundeswehr haben sich in betonierte Festungen verwandelt. Patrouillen bewegen sich fast nur noch in einem Radius von zwanzig Kilometern rund um die Bollwerke Mazar-e-Scharif, Kundus und Faizabad. Noch fiel es deutschen Kommentatoren leicht, die rüden Kampfmethoden der US Special Forces zu kritisieren, aber die eigene »Friedensmission« der ISAF erwies sich bald als verlogene Utopie. Während das Pentagon seit der Amtsübernahme Barack Obamas von der wahllosen Bombardierung ziviler Ziele Abstand nahm und versucht, die »Herzen und Gemüter« der Bevölkerung zu gewinnen, gerieten die Deutschen ihrerseits in den Schlamassel und unter den zunehmenden Beschuß des afghanischen Widerstandes.
    Unter Berufung auf das verdienstvolle, aber inzwischen verstaubte Kriegsrecht, das mehrheitlich vor hundert Jahren entworfen wurde, klammerte sich die Bundesrepublik weiterhin an die groteske Behauptung, in Afghanistan könne von einem Krieg nicht die Rede sein, sondern es gehe darum, diese Nation in Freiheit und Fortschritt wieder aufzubauen. Die jüngste Präsidentenwahl, aus der Hamid Karzai nur durch skandalösen Wahlbetrug als »Sieger« hervorging, hätte den damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung eines Besseren belehren und von seiner unsinnigen Fehlbeurteilung abbringen müssen.
    Da ereignete sich vor einigen Wochen die Katastrophe von Kundus. Dieser zentrale deutsche Stützpunkt wurde zunehmend von den aus Süden vorrückenden Taleban bedrängt. In Reichweite des deutschen Bollwerkes wurden sogar zwei riesige Tanklastwagen entführt, die in einem Flußbett steckengeblieben waren. Die Taleban hatten wohl die Bevölkerung aufgefordert, die gestrandeten Fahrzeuge anzuzapfen, um sich für den Winter mit Brennstoff einzudecken.
    Die ganze Schwäche der deutschen Position wurde deutlich, als sich zu nächtlicher Stunde kein Spähtrupp aus der Festung Kundus herauswagte, um nach dem Rechten zu sehen. Stattdessen forderte der kommandierende Oberst Klein den schonungslosen Einsatz amerikanischer Bomber an. Der US-Oberbefehlshaber für Afghanistan, General McCrystal, hatte seiner Air Force die Order erteilt, nur noch im Falle akuter Gefechtsberührung zu intervenieren und im Zweifelsfall durch Tiefflüge verdächtige Ansammlungen zu zerstreuen. Diesem Befehl hat der deutsche Kommandeur von Kundus zuwidergehandelt. Aus seinem Bericht an seine Vorgesetzten geht hervor, daß es ihm gar nicht darum ging, die entführten Tankwagen zu treffen, sondern die sich dort ansammelnden Afghanen – ob nun Taleban oder nicht – zu »vernichten«. Kein Wunder, daß die

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